Neue Musik:Woher der Wind kommt und wohin er fährt

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Klangereignisse wie Morsezeichen des Überwirklichen: Ein langes Musica-Viva-Wochenende in München forscht in mehreren Konzerten nach der Transzendenz in der zeitgenössischen Musik.

Von Michael Stallknecht

Von allen Seiten strömen die Klänge bei Jonathan Harveys viertem Streichquartett auf den Hörer ein. Dabei produzieren die vier Streicher des Arditti Quartets auf der Bühne des Münchner Herkulessaals eigentlich eher leise Geräusche, kratzen mit ihrem Bogen am Steg oder am Holz der Violine. Doch die Klänge werden von der Klangregie verstärkt, verändert, vervielfacht. Für den englischen Komponisten lag in diesen technischen Mitteln auch die Möglichkeit einer Bewusstseinsveränderung, einer Öffnung auf eine andere Welt in einem religiösen Sinne.

Die Erprobung neuer Klanglichkeiten ist der Neuen Musik zutiefst eingeschrieben, wie ein langes Wochenende der Musica Viva in München wieder zeigte. In gleich drei Konzerten spielte das in zeitgenössischer Klassik legendäre Arditti Quartet nicht nur alle vier Quartette des 2012 verstorbenen Harvey, sondern gleich auch noch Streichquartette von Wolfgang Rihm, Harrison Birtwistle sowie Uraufführungen von Mark Andre und Salvatore Sciarrino. Dazu kam noch ein Orchesterkonzert, in dem das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben einer weiteren Uraufführung von Mark Andre etwas ältere Stücke von Harvey, György Kurtág und Matthias Pintscher Revue passieren ließ, wobei Pintscher auch als Dirigent im Einsatz war.

Winrich Hopp, der Chef der Musica Viva, liebt solche langen Wochenenden, die in München auf ein erstaunlich zahlreiches und belastungsfähiges Publikum treffen. Im maximalen Stilpluralismus der gegenwärtigen zeitgenössischen Musik entstehen dabei nicht immer schlüssige Zusammenstellungen. Das war spürbar anders an diesem Wochenende, an dem das geheime Band in der Frage zu liegen schien, wie weit neue Klänge die Brücke bilden können in eine andere Wirklichkeit.

Dabei schien gerade der sogenannte "Materialfortschritt" in den letzten Jahren unter zeitgenössischen Komponisten nicht mehr den besten Ruf zu besitzen. Neue Klänge zu erfinden, kann auch leicht zum Selbstzweck werden. Man spürt diese Gefahr durchaus in den "Miniaturen", die Mark Andre gemeinsam mit den Klangtüftlern des Arditti Quartets zu seinem ersten Streichquartett ausgearbeitet hat. Fast alle der zwölf Miniaturen bewegen sich an der Hörbarkeitsgrenze, wobei Andre in jedem der meistens gerade mal eine Minute langen Stücke die Möglichkeiten einer neuen Spieltechnik erprobt. Das teilweise kaum noch hörbare Ergebnis wirkt bisweilen wie eine bloße Versuchsanordnung, was freilich auch dem selbst gewählten Platz des Kritikers in den hinteren Reihen des Herkulessaals geschuldet sein mag.

Bläser schlagen mit Handballen auf die Mundstücke, Streicher zupfen Saiten mit Plastikkarten

Denn dass die Suche nach neuen Materialien sich bei Andre nicht in sich selbst erschöpft, machte am Tag darauf sein Orchesterwerk "woher...wohin" unfehlbar deutlich. Bei dem stark religiös inspirierten elsässischen Komponisten stehen die Übergänge zwischen dem gerade noch Hörbaren und dem Unhörbaren auch für das Entschwinden in eine andere Wirklichkeit. Seinem groß besetzten Orchesterwerk hat Andre eine Zeile aus dem Johannes-Evangelium vorangestellt: "Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren wird." Man kann diesen Wind tatsächlich hören, wenn die vier Schlagzeuger der BR-Symphoniker sogenannte Schwirrbögen durch die Luft sausen lassen. Im dritten der insgesamt sieben Teile - die Sieben ist eine heilige Zahl - wird er zum regelrechten Sturm, der sich zu schweren Tamtam-Schlägen ausweitet. Eine Ahnung von Apokalypse liegt in dieser Musik, die dennoch nichts Schreckliches an sich hat. Denn selbst wenn Andre die Bläser mit Handballen auf die Mundstücke schlagen lässt und die Streicher die Saiten mit Plastikkarten zupfen, sogar Umblättergeräusche einbezieht, verfällt er nie ins Illustrative. Hier geht es um das Gegenteil von Effekt. Um was, lässt sich mit Worten bezeichnenderweise kaum sagen. "woher...wohin" lässt sich am ehesten als ein Zustand offenen Wartens beschreiben, in den die Klangereignisse zu Morsezeichen aus dem Überwirklichen werden.

Wie schwer solche musikalischen Welten zu generieren sind, ließ sogar der Kontrast zu Jonathan Harveys im Anschluss gespieltes Orchesterwerk "...towards a pure land" spüren. Dass Harvey mittels Zimbelklängen, rieselnden Sandgeräuschen und sphärisch vorrückenden Streicherakkorden "...nach einem reinen Land" strebt, wirkte nach der Hörerfahrung von Mark Andres außerordentlichem Werk fast schon kitschig. Die meisten Komponisten müssen, wenn sie nach dem Überwirklichen streben, wohl doch den Umweg über die vielleicht gerade noch zugängliche menschliche Grenzerfahrung nehmen: über den Tod. Das tut denn beispielsweise auch Matthias Pintscher in seinem Orchesterwerk "whith lilies white", in dem drei Frauenstimmen und der beeindruckend selbstbewusste Vinzenz Löffel als Knabensopran das Sterbeprotokoll des Künstlers Derek Jarman aus dem Jahr 1994 rezitieren. Bis schließlich hinter den Klängen eines teilweise harten Todeskampfs die reinen Renaissanceklänge eines verfremdeten Klagegesangs von William Byrd durchdringen. Mit ähnlicher Absicht vertont Salvatore Sciarrino in seinem neuen Werk für Streichquartett und Countertenor einen Nachlasskatalog des italienischen Renaissancemalers Andrea del Sarto. "Cosa resta" lautet der Titel: was bleibt. Es ist nicht viel, die meisten Gegenstände sind vierzig Jahre nach dem Tod des berühmten Malers zerbrochen oder unbrauchbar geworden. Doch wenn der Countertenor Jake Arditti die Liste in psalmodierenden Floskeln rezitiert, dann werden sie von Sciarrino zu einem neuen Leben, wenngleich vielleicht nicht ewigem Leben erweckt.

Musik steht der Transzendenzerfahrung nahe, das gilt, lehrt dieses Wochenende, auch in der zeitgenössischen Klassik. Sie muss nicht immer so explizit daherkommen wie bei Mark Andre, dem im Rahmen des Festivals der Happy-New-Ears-Preis der Hans-und-Gertrud-Zender-Stiftung verliehen wurde, woraufhin er in seine Danksagung gleich auch den Heiligen Geist einschloss. Sein Orchesterwerk "woher...wohin" darf fraglos schon jetzt als eine der großen Ruhmestaten der Musica Viva gelten.

© SZ vom 10.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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