Netznachrichten:Gewaltige Aussichten

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360-Grad-Videos bieten Rundum-Panoramen und stellen das Kino vor große Herausforderungen. Per Mausklick kann der Zuschauer die Perspektive nach eigenem Willen verändern. Der Film wird zu einem frei erlebbaren Raum.

Von Michael Moorstedt

Google Street View hat seine virtuellen Spaziergänge mit Rundblick längst ausgeweitet. Mit kreisrunden Kameras, die aussehen wie eine Discokugel, schickt Google Mitarbeiter und Freiwillige auf mehr oder weniger ausgetretene Pfade. Der Markusplatz in Venedig ist genauso dabei wie das Great Barrier Riff in Australien oder das legendäre Londoner Abbey Road Studio.

Um die totale Vermessung der Welt zu rechtfertigen, bemüht Google die Bildung. "Expeditions" heißt ein Programm, das künftig Schulausflüge und Exkursionen ersetzen oder zumindest verbessern soll. Es führt auch an Reiseziele, für die die Klassenkasse bisher nicht ausgereicht hat. Neu daran ist, dass man das Taj Mahal, Angkor Wat und die Galapagos-Inseln nicht nur in den von Street View bekannten schockgefrorenen Momenten, sondern in hochauflösenden Bewegtbildern erleben kann.

Sogenannte 360-Grad-Videos lassen sich seit einigen Wochen auch auf Youtube hochladen und betrachten: atemlose Extremsport-Events, Musikvideos, herzzerreißende Dokumentationen über das Leben syrischer Flüchtlinge. Mit einem Mausklick kann der Zuschauer die Perspektive frei verändern, all das während der Film weiterläuft. Noch beeindruckender sind die Aufnahmen, wenn man sie durch eine Virtual-Reality-Brille betrachtet. Dann werden die eigenen Kopfbewegungen zum Kameraschwenk. Noch sind es nur kurze Clips, selten länger als fünf Minuten. Bis Ende des Jahres sollen die ersten Produktionen in Spielfilmlänge abgedreht sein.

Auf den diesjährigen Filmfestivals in Tribeca und Sundance waren die Trailer zu den Virtual-Reality-Videos die Publikumssensation. Denn auch abseits von kurzlebigen Showeffekten stellt die VR-Technologie das Kino vor große Herausforderungen. Der Film wird zu einem frei erlebbaren Raum. Er löst sich von der Leinwand und wird um den Betrachter herum tapeziert. So wird durch eine neue Technik - oder gar ein gänzlich neues Medium? - mal eben eine Jahrhundert-Kino-Konvention infrage und auf den Kopf gestellt.

Wenn ein komplettes 360-Grad-Panorama betrachtet werden kann, wo ist dann das Produktionsteam? Welches ist der richtige Bildausschnitt? Wie können überhaupt noch Schnitte gesetzt werden, wo jeder den Blickwinkel frei wählen kann? Überhaupt: Wie stellt man sicher, dass der Zuschauer in die richtige Richtung blickt? Und nicht gerade ein nettes Panorama bewundert, während sich der Showdown hinter ihm abspielt.

© SZ vom 13.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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