Netz-Depeschen:Über kurz oder lang

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Für das Elektrobuch Kindle kann man neuerdings, gleich einer Musiksingle, einzelne lange Texte kaufen. Was sagt uns das über die Lesegewohnheiten von Internetnutzern?

Franziska Schwarz

Viele Texte sind zu lang für eine Zeitschrift, aber zu kurz für ein Buch. Auf dem "Kindle", dem Lesegerät für elektronische Bücher, finden sie seit kurzem Platz: "Singles", so wie die Auskopplung eines Musikalbums, heißt das neue Textformat. Höchstens 4,99 Dollar sollen die "Kindle Singles" kosten, deutlich weniger als die meisten E-Books. Bei 0,99 Dollar, dem Preis eines iTunes-Songs etwa, geht es los. Keiner der Texte ist länger als sechzig Seiten. Reportagen, Ratgeber und Essays, aber auch Kurzgeschichten gibt es bei Amazon nun als "Singles" zu kaufen, lesbar auch auf dem iPhone und anderen Geräten.

Lesen die Menschen im Netz nur kurze Texte? Oder vielleicht doch gerade besonders lange? Auf das E-Book Kindle kann man jetzt ausführliche Lesestücke als "Singles" herunterladen. (Foto: Joerg Sarbach/AP)

So werden nun Vorträge der TED- Konferenz verschriftet angeboten, doch auch ein Diät-Erfahrungsbericht eignet sich offenbar für eine Textsingle. Amazon rette damit die alte Tradition der langen journalistischen Texte, weil die schwierig an Zeitschriften zu verkaufen seien, schreibt das Technologie-Magazin Wired dazu. Manche vermuten, die "Singles" entsprächen eher den neuen Lesegewohnheiten des Internetnutzers, denn dessen Lesespanne werde immer kürzer - eine Beobachtung, die zum Beispiel der Netz-Kritiker Nicholas Carr in seinem letzten Buch ausgeführt hat. "tl;dr" ist ein im Netz geläufiges Kürzel für "too long; didn't read": Zu lang; habe ich nicht gelesen. Die Singles kommen da, als Kurzbuch quasi, dem geschäftigen User anscheinend entgegen.

Die Kindle Singles lassen sich aber auch als die lang ersehnte Ausdehnung der Lesezeit deuten. Ihre ersten Käufer könnten die Nutzer von Webseiten wie longform.org oder longreads.com sein. Diese verlinken ausschließlich auf Onlinetexte von einer gewissen Mindestlänge, komplett mit Verschlagwortung und Suchfunktion. Lange Texte müssen im Netz leichter auffindbar sein, lautet die Forderung. Longreads-Gründer Mark Armstrong will sich nicht mühsam durchs Netz klicken, wenn er mit seinem iPhone in der U-Bahn sitzt. Longreads gibt sogar die Minuten an, die ein Artikel an Lesezeit beanspruchen wird - ob nun als Anreiz oder als Warnung.

Longreads nähert sich dem Lesen an, wie man es eher vom auf Papier Gedrucktem kennt. Andere dagegen verzichten gerne auf Features wie Hochglanzpapier und Einband. Wired-Autor Evan Ratliff reichert in seinem eigenem E-Book-Verlag "The Atavist" die digitalen Texte mit Illustrationen, Videos und Songs an. Per Knopfdruck lässt sich zum Beispiel zur Audioversion wechseln; Ortsnamen können direkt mit einer Landkarte verlinkt werden; ist in einer Bankraub-Geschichte von einem Überwachungsvideo die Rede, kann man das Video gleich einbinden - anstatt hier nur mit Worten zu arbeiten, so Ratliff.

Vorsichtshalber lässt Evan Ratliff dem Konsumenten aber die Wahl, all diese Features auch einfach abzuschalten. Das Software-Tool "Readability" - inzwischen in vollem Umfang sogar kostenpflichtig - erlaubt das übrigens schon lange: Es entfernt von einem Onlinetext alles Überflüssige, also Bilder, Videos und Sound. Was übrig bleibt, sieht aus wie die vertraute Buchseite auf Papier.

© SZ vom 07.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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