Nachruf:Stimme Lateinamerikas

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"Die internationale Arbeitsteilung besteht darin, dass einige Länder sich im Gewinnen und andere im Verlieren spezialisieren", schrieb 1971 der junge Eduardo Galeano. Nun ist er im Alter von 74 Jahren gestorben.

Von Peter Burghardt

Auch Barack Obama besitzt das Buch, Hugo Chávez sei Dank. Es ist nicht überliefert, ob der US-Präsident "Die offenen Adern Lateinamerikas" daraufhin gelesen hat und wo in seiner Bibliothek im Weißen Haus das Geschenk Platz fand. Jedenfalls drückte ihm der Kollege aus Venezuela beim Amerika-Gipfel 2009 in Trinidad und Tobago den Klassiker von Eduardo Galeano in die Hand, Obama blätterte verblüfft vergnügt in dem Präsent. Es waren die Zeiten, als der dann 2013 verstorbene Chávez die Widerstandsbewegung gegen Washington anführte und Obama noch nicht wie nun in Panamá den Kubaner Raúl Castro traf. Den Verfasser Galeano rief die Übergabe grandios in Erinnerung - bei Amazon stieg die Verkaufsrate der englischsprachigen Version "The open veins of Latin America" kurzzeitig raketenhaft an.

Bei Freunden des Universums südlich der USA stand dieses Manifest der Dependenztheorie natürlich schon längst als Fixpunkt im Regal, auch wenn es vielerorts Staub angesetzt hatte. 1971 erschien die erste Auflage unter dem Titel "Las venas abiertas de América Latina", danach war Galeano ein Star der Linksintellektuellen und nachmaligen Globalisierungskritiker. Der Uruguayer beschreibt darin die Geschichte und vor allem Ausbeutung des Subkontinents seit der europäischen Invasion - es ist eine historische Abrechnung mit den Kolonialmächten sowie mit den multinationalen Konzernen besonders aus dem Norden, der den Süden gerne als Hinterhof und Steinbruch betrachtete.

Er blieb ein knorriger Streiter für Ureinwohner und Ökologie, gegen Unterdrücker

"Die internationale Arbeitsteilung besteht darin, dass einige Länder sich im Gewinnen und andere im Verlieren spezialisieren", legt das Vorwort los. Veröffentlicht hatte der Südamerikaner seinen bekanntesten Titel mit 31 Jahren, ähnlich jung wie der jetzt am selben Tag verblichene Günter Grass seine "Blechtrommel". In reiferen Jahren war ihm der Inhalt später selbst zu viel. "Ich könnte das nicht noch mal lesen", berichtete Galeano vierzig Jahre später, "ich würde in Ohnmacht fallen. Für mich ist diese Prosa der traditionellen Linken extrem langweilig." Es habe "ein Werk der politischen Ökonomie" sein sollen, "ich hatte nur nicht die notwendige Bildung."

Wer allerdings in der Gegenwart neben Tagelöhnern mit Staublunge durch die einsturzgefährdeten Stollen des bolivianischen Silberberges Cerro Rico im armen Potosí keucht, dem kommt seine Chronik von einst gar nicht so naiv vor. "Diese zur melancholischen Erinnerung an die Vergangenheit verurteilte, von Elend und Kälte heimgesuchte Stadt ist noch heute eine offene Wunde des Kolonialsystems in Amerika", heißt es da, "eine lebende Anklage." Das stimmt.

Ein politischer Querdenker war der Autor seit seiner Jugend und bis zu seinem Lungenkrebstod im Alter von 74 Jahren an diesem Montag in Montevideo. Eduardo Hughes Galeano wurde ebendort 1940 geboren und verwendete nachher den Nachnamen seiner Mutter. Statt als Guerillero wie der argentinische Kubaner Che Guevara zog das Kind aus einer katholischen Mittelklassenfamilie mit spanischen, italienischen, walisischen und deutschen Wurzeln mit Stift und Schreibmaschine ins Gefecht. Nach Stationen als Bankkassierer, Schaffner und Arbeiter in einer Fabrik für Insektizide schlug sich das widerspenstige Talent früh als Karikaturist und Journalist durch. Mit Mitte zwanzig hatte er es bereits in die Leitung linker Zeitschriften wie Marcha, Brecha, Época und Crisis geschafft, in Zusammenarbeit mit Kollegen wie Mario Benedetti und Mario Vargas Llosa. "Die offenen Adern Lateinamerikas" brachte der Rebell vom Río de la Plata in einer Ära unters Volk, als das kleine Uruguay zwar noch als "Schweiz Südamerikas" galt und Kubas Revolution schon mehr als ein Jahrzehnt hinter sich hatte. Aber reaktionäre Generäle machten mit oligarchischer und US-Hilfe bald wieder gegen Sozialisten und andere Verdächtige mobil.

Galeano flüchtete wie so viele Dissidenten, als das Militär entführte, folterte und mordete, erst nach Argentinien und dann nach Spanien. Die Romane "La canción de nosotros" ("Wenn die Erde aufsteigt") und "Días y noches de amor y de guerra" ("Tage und Nächte von Liebe und Krieg") erzählen von Horror und Flucht. Im Exil entstand auch die Trilogie "Memoría del fuego" ("Erinnerung an das Feuer").

Über die Schönheiten und Ungerechtigkeiten zwischen Río Grande und Kap Hoorn schrieb der Chronist auch nach seiner Rückkehr ins wieder demokratische Uruguay, und das selbst nach dem Einzug der digitalisierten Technik, am liebsten in Notizbücher, bevorzugt am Fenstertisch in seinem Lieblingscafé "Brasilero" von Montevideo.

Von Galeano habe er viel über Lateinamerika gelernt, lobte Hugo Chávez

Da waren seine Essays und Miniaturen, Bücher wie "Las palabras andantes" ("Wandelnde Worte") oder "El libro de los abrazos" ("Das Buch der Umarmungen"). Der ältere Galeano blieb der knorrige Streiter für Ureinwohner und Ökologie, gegen Neoliberale und Unterdrücker. "Wenn die Natur eine Bank wäre, dann wäre sie schon gerettet worden", ist eines seiner Bonmots. Er wurde zu einer Stimme jener Bewegung, die seine erweiterte Heimat in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ganz erheblich verändert hat. Er war ein Begleiter von Männern wie dem Venezolaner Chávez, mit dem der Linksruck in Lateinamerika Ende der Neunzigerjahre an Wahlurnen in Schwung kam.

Er habe von Galeano viel über Lateinamerika gelernt, lobte Chávez. "Ein seltsamer Diktator", spottete Galeano, als Chávez von seinen zahlreichen Gegnern als Tyrann verunglimpft wurde, er stelle sich ständig zu Wahlen und gewinne meistens. Auch könne er sich nicht erinnern, dass es in seiner Vergangenheit als Korrespondent von Prensa Latina in Caracas auch nur ein paar Ärzte für die vielen armen Kinder im ölreichen Venezuela gegeben habe; das sei unter Chávez anders.

Noch kürzlich verteidigte er die chaotische chavistische Regierung von Nicolás Maduro gegen Vorwürfe aus den USA. Und im März empfing der Schwerkranke bei einem seiner letzten Auftritte den Bolivianer Evo Morales, der zum Amtsantritt von Tabaré Vázquez im Land war.

Mancher hielt ihn eher für einen Politaktivisten als für einen Literaten. Trotz so schöner Sätze wie diesem: "Es fährt der Seemann zur See, obwohl er weiß, dass er niemals die Sterne berühren wird, die ihn leiten", dichtete Galeano in "Espejos" ("Spiegel").

Vermissen wird man ihn auch als einen Liebhaber des Fußballs. Über Lionel Messi sagte er, dass Messi der Ball nicht wie Diego Maradona am Fuß klebe, sondern ihm im Fuß stecke, "ein physisches Phänomen". Bei der WM 2010, als Uruguay Vierter wurde, hängte er ein Schild an seine Haustür: "Wegen Fußball geschlossen."

© SZ vom 15.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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