Nachruf:Sinnlich diabolisch

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Maya Plisetskaya, die letzte Primaballerina Assoluta des Bolschoi Theaters, ist gestorben.

Von DORION WEICKMANN

Einen solchen Skandal hatte das legendäre Moskauer Bolschoi Theater noch nie gesehen. Kaum uraufgeführt, geriet das Ballett "Carmen-Suite" 1967 wegen allzu großer Freizügigkeit auf die Abschussliste der Kulturfunktionäre - worauf die Starsolistin Maja Plissezkaja zur Ministerin eilte, um zu retten, was zu retten war. Sich mit aller Welt anzulegen lag ihr im Blut: "Ich war", bekannte die Tänzerin in ihrer Autobiografie, "widerspenstig, ungeduldig und von überschäumendem Temperament." Tatsächlich riskierte die 1925 in Moskau geborene Tochter einer Schauspielerin und eines Ingenieurs jeden Konflikt, wenn es um ihre Überzeugung ging: nieder mit dem "Mottenkugelballett"!

Die feurige "Carmen", die ihr Ehemann Rodion Schtschedrin auf den Leib komponiert hatte, roch so gar nicht nach Tradition und zog deshalb den Zorn der Kulturministerin Jekaterina Furzewa auf sich. "Zu viel Erotik", schnaubte die Theatergouvernante, "ziehen Sie sich einen Rock an, Maya, bedecken Sie Ihre nackten Schenkel!" Die "Verräterin des klassischen Balletts" dachte gar nicht daran. Und triumphierte.

Maja Plissezkaja begriff sich selbst als die "erste Dissidentin" der UdSSR

"Unabhängigkeit, Besessenheit, Hartnäckigkeit" bildeten das Dreigestirn über dem Haupt der Maja Michailowitsch Plissezkaja, die sich selbst als "erste Dissidentin" der UdSSR begriff. Mit gutem Grund: 1938 hatte Stalin ihren Vater exekutieren lassen und die Mutter nach Kasachstan verbannt. Dieses Verbrechen hat Plissezkaja dem Staat, in dessen "Leibeigenschaft" sie sich lange gefangen sah, nie verziehen. Zwar legte sie von 1943 an eine Bolschoi-Blitzkarriere hin, trat regelmäßig vor den wechselnden Kreml-Potentaten auf und gab dabei Hunderte Male sowohl den "Schwanensee" als auch den "Sterbenden Schwan" zum Besten. Aber weil die politische Zähmung der Widerspenstigen misslang, hatte sie bis 1959 Reiseverbot. Und das, obwohl ihre Darstellung der Repertoire-Heldinnen von "Raymonda" bis "Laurencia" Maßstäbe setzte: So sinnlich, so verführerisch und diabolisch weiblich gebärdete sich keine andere Tanzdiva. Ihre Sprünge waren furios, ihre Arme voller dramatischer Verve, was ihr im Westen später den Titel "Callas des Tanzes" eintrug.

Nach dem "Carmen"-Befreiungsschlag begann Plissezkaja selbst zu choreografieren. Sie arbeitete sich durch den literarischen Fundus von "Anna Karenina" (1972) bis zur "Dame mit dem Hündchen" (1984) vor. Höchste künstlerische Erfüllung bescherte ihr die Zusammenarbeit mit Roland Petit und Maurice Béjart, dessen "Boléro" sie 1975 ihren unvergleichlichen Weibsteufel-Charme einhauchte. Niemand hat diese viertelstündige Orgie luzider und lasziver getanzt als die rothaarige Circe, die letzte wahre Primaballerina assoluta des Bolschoi. Noch zur Jahrtausendwende stand sie dort auf der Bühne, versöhnt und zugleich unbeugsam wie immer. Aufrecht blieb Maja Plissezkaja auch im Herbst des Lebens, den sie so verbrachte, wie es immer ihr Wunsch gewesen war: als "reisende Nomadin" mit Hauptwohnsitz München. Dort ist sie im Alter von 89 Jahren jetzt auch gestorben. In den Annalen des Tanzes wird ihr Name feuerrot und unvergänglich glänzen, für immer.

© SZ vom 04.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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