Nachruf:Historiker Richard Pipes gestorben

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Er schrieb eine "grandios einseitige" Geschichte über die Bolschewiken und prägte die Außenpolitik der USA.

Von Sonja Zekri

Sein Buch "Russian Conservatism and its Critics" aus dem Jahr 2005 begann Richard Pipes mit einem Zitat des russischen Schriftstellers Nikolaj Karamsin: "Die Autokratie hat Russland geschaffen und wiederbelebt. Jede Veränderung seiner politischen Verfassung hat in der Vergangenheit zu seinem Untergang geführt und wird dies auch in Zukunft tun." Karamsin, Verfechter einer fast religiösen Selbstherrschaft, hatte diese Worte 1810 geschrieben, aber Pipes präsentierte sie durchaus als Leitmotiv seines historischen Schaffens. Die Annahme eines fast deterministischen russischen Autoritarismus zog sich durch die meisten seiner zwanzig selbst verfassten oder herausgegebenen Bücher. Sie war ein Grund für eine politische Karriere - immerhin zwei Jahre in Ronald Reagans Sicherheitsrat! -, aber ebenso für die herzliche Ablehnung liberalerer Kollegen.

Geboren 1923 als Ryszard Edgar Pipes im polnischen Cieszyn als Sohn einer jüdischen Familie - der Vater Schokoladenfabrikant, die Mutter Hausfrau, man sprach Deutsch zuhause und Polnisch auf der Straße -, kannte er die Nähe der beiden übermächtigen Nachbarn nur zu gut. 1939 floh die Familie über Italien nach Amerika, wo Pipes noch während des Krieges Russisch studierte und später nach Harvard zog, wo er den Rest seines akademischen Lebens verbrachte. "Russland vor der Revolution", im Original 1974 erschienen, setzte bereits den Ton: dass Russland seit der mittelalterlichen Reichsbildung, der Kiewer Rus, darunter litt, dass der Zar nicht nur das Land, sondern auch die Untertanen besaß, Eigentumsrecht aber unterentwickelt war, dass Russland, wie er einmal schrieb, vom Westen zwar Kunst, Literatur, Industrie und Militär kopierte, aber eben kein partizipatives Gesellschaftsmodell. In seiner großen, 1990 erschienenen Revolutionsgeschichte, führte er diese autoritäre Kontinuität weiter bis zu den Bolschewiken, die er für die verachtenswertesten Vertreter der generell schon sehr verachteten Intelligenzija hielt. Es war ein Werk, das Pipes' Kollege Dietrich Geyer als "grandios einseitig" bezeichnete, aber da schien die Geschichte Pipes längst bestätigt zu haben: Die Sowjetunion lag in den letzten Zügen. Anders als seine Kollegen hatte Pipes die Überlebenschancen des Riesenreiches bereits früh in Zweifel gezogen und für eine beherzte Aufrüstung plädiert. Bis 1991 hatte dies wie das ideologische Wunschdenken eines "kalten Kriegers" geklungen - ein Titel, auf den Pipes stets stolz war. Nun galt er als Prophet.

Hatte er auch in anderer Hinsicht recht? Sind die Russen tatsächlich autoritätshörig, unfähig zur Demokratie, geprägt von Jahrhunderten mongolischer Herrschaft? Wer so denkt, sollte wissen, was Pipes ausgelassen hat: das mindestens ebenso lange Ringen Russlands um Freiheit, eine eigenständige Kultur, Literatur und Wissenschaft. Und nicht zuletzt die Zufälle der Geschichte. Ende vergangener Woche ist der Russlandhistoriker Richard Pipes im Alter von 94 Jahren in Belmont, Massachusetts, gestorben.

© SZ vom 23.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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