Nachruf:Helle Wut eines Aufgeklärten

Lesezeit: 3 min

Zum Intellektuellen seines Typs gehörte die politische Intervention - jetzt ist André Glucksmann in Paris gestorben.

Von JOSEPH HANIMANN

Unter Frankreichs Medien-Intellektuellen war er derjenige, dessen Stimme am lautesten das Ende der Systemideologien ausrief. Das erste politische Engagement des 1937 in Boulogne-Billancourt geborenen Sohnes osteuropäisch-jüdischer Einwanderer, der in Paris die philosophische Eliteausbildung durchlief, galt in den Sechzigerjahren den maoistischen Aktionsgruppen. Die Lektion über menschenverachtende Dogmatik, die er dort erhielt, hat dann für ein ganzes Leben gereicht.

Glucksmann, der zeitweilig Assistent des Sartre-Widersachers Raymond Aron an der Sorbonne gewesen war, wandte sich mit seinem Buch "Köchin und Menschenfresser - Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager" (1975) resolut vom Marxismus ab und begann sein künftiges Lebenswerk: die Untersuchung darüber, wie die mit auf Totalität abzielenden Gesellschaftstheorien die Menschenwürde vernichten. Dieses und das zwei Jahre später folgende Buch "Die Meisterdenker" machten André Glucksmann zu einer Symbolfigur dessen, was in den Medien bald unter dem Markenzeichen "Die Neuen Philosophen" bewundert oder bekämpft wurde. Die Dissidenten der Ostblockstaaten wie Alexander Solschenizyn und die nach dem Ende des Vietnamkriegs eintreffenden Flüchtlinge aus dem kommunistischen Regime setzten den Rahmen dieses endgültigen Bruchs zwischen Intellektuellen und Kommunismus.

Zusammen mit Bernard-Henri Lévy, Pascal Bruckner und einigen anderen schlüpfte Glucksmann mit Temperament und Wonne in die Rolle der "bösen Buben" des Verrats an der linken Ideologie. Die Unterdrückung auch der geringsten Minderheit im Namen der Allgemeinheit raube dieser jede Legitimität - so lautete fortan ihr Credo. Und dass dieser Perspektivenwechsel von der Masse aufs Einzelsubjekt mit seiner Menschenwürde für ihn auch konkrete Auswirkungen habe, zeigte Glucksmann zusammen mit Bernard Kouchner durch die Gründung der Menschenhilfsorganisation "Médecins sans frontières", zunächst in den postkolonialen Kriegsgebieten Afrikas.

Die Wende aus dem Links-rechts-Gefälle heraus auf einen zusehends atlantischen Kurs in der Weltpolitik war damit für den Kreis der "Neuen Philosophen" eingeschlagen. Wo immer in den letzten vierzig Jahren ein Konflikt ausbrach, waren diese Pariser Intellektuellen mit ihren manchmal reichlich schematischen Erklärungsmodellen und Petitionen zugegen, mit der Tendenz, die Kategorien "Gut" und "Böse" zum Gegensatz von Unschuld und Barbarei zu steigern. Ihre Stärke war es, durch ihre mediengestützte Position in Frankreich in die Politik hineinwirken zu können, vom Jugoslawienkrieg bis zum Sturz Gaddafis. Ihre Schwäche, dass häufige Wortmeldung sich abnützt. Glucksmanns unermüdliches Engagement für den tschetschenischen Unabhängigkeitskrieg gegen Putin ist ziemlich erfolglos verklungen.

Der Sturz des Sowjetimperiums hatte dem Mahner so sehr recht gegeben, dass es ihm international die Stimme verschlug. Mit wachsender Leidenschaft wandte sich Glucksmann in den letzten zwanzig Jahren den "inneren" Feinden zu. In Büchern wie "Westen gegen Westen" (2003) oder "Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt" (2004) untersuchte er das Gewaltpotenzial innerhalb der europäischen, speziell der französischen Gesellschaft - zusehends mit Blick auf die Banlieues und andere Randzonen, in denen er einen neuen Krieg gegen die Grundwerte der westlichen Demokratien heranwachsen sah.

"Voltaire contre-attaque" (Voltaire schlägt zurück) hieß im vergangenen Jahr ein letzter Versuch, die Dinge ins Lot zu rücken. Der Islam und seine politischen Verlängerungen wurde dabei ein wiederkehrendes Thema - und entsprechend auch Glucksmanns eigene jüdische Herkunft. Seine Verteidigung der jüngsten israelischen Militäroperationen in Gaza regten jedoch nicht mehr, wie noch zehn Jahre zuvor seine Unterstützung des Feldzugs unter amerikanischer Führung gegen Saddam Hussein, zu großen Debatten an, sondern eher zu müdem Kopfschütteln. Glucksmann, der 2007 zum intellektuellen Wahlhelfer Sarkozys geworden war, um sich dann etwas gewunden wieder von ihm abzuwenden, sah seine Resonanz und die der Intellektuellen überhaupt zur Neige gehen. Sein Drama der späten Jahre lag darin, dass seine Empörungsbereitschaft noch lange nicht aufgebraucht war.

"Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens" hieß vor neun Jahren seine essayistisch verfasste Autobiografie. Die aus der frühen Kindheit bis ins Alter gerettete Wut gegen die immer klar erkannten und benannten Missstände der Welt ist das Gegenteil von dem, was ihn als neue Gefahr zusehends beunruhigte: ein begriffslos dumpfer, bald fanatischer, bald populistischer Hass gegen fast alles, der nicht mehr in totalitäre, sondern in blinde Gewalt ausartet. In der Nacht zum Dienstag ist André Glucksmann im Alter von 78 Jahren in Paris gestorben. Seine aufgeklärt helle Wut wird in Erinnerung bleiben.

© SZ vom 11.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: