Nachruf:Gottfried Schramm

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Am 26. Oktober verstarb der Freiburger Osteuropa-Historiker im Alter von 88 Jahren.

Von Gustav Seibt

In einem seiner letzten Zeitungsartikel sprach Reinhart Koselleck von einem "großen Wurf": "Wer wagt es heute noch, über dreitausend Jahre hinweg Fragen an die Weltgeschichte zu richten, die nicht der Zufälligkeit von Jahrhunderteinteilungen ausgeliefert sind?" Mit diesem Vollklang eröffnete Koselleck 2004 seine Rezension der "Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte" von Gottfried Schramm, des Freiburger Osteuropa-Historikers, der am 26. Oktober im Alter von 88 Jahren verstorben ist. Schramms nur vierhundert Seiten umfassendes Werk behandelt vergleichend fünf welthistorische Durchbrüche: die Entstehung des mosaischen Monotheismus, die Verkündung der christlichen Botschaft, Luthers Reformation, die Gründung der amerikanischen Demokratie und die russische Revolution. Sie alle zeigten, so Schramm, charakteristische Gemeinsamkeiten. Darunter diese: Sie wurden von eher jungen Führern und Anhängern in vergleichsweise kurzer Zeit errungen; sie alle vereinfachten und verallgemeinerten eine Vorgängerformation, Moses den ägyptischen Polytheismus, Christus die Beschränkung des einen Gottes auf ein Volk, Luther den kirchlich verwalteten Glauben in einer Gewissenreligion, die Vereinigten Staaten den britischen Ständeparlamentarismus in einer repräsentativen Flächendemokratie, die russische Revolution die Arbeiterbewegung in einer terroristischen Avantgarde. Sie alle zeitigten kanonische Texte.

Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit der "Wegscheiden" besteht laut Schramm darin, dass sie in kolonialen Vorgeländen oder in kulturellen Randgebieten stattfanden: Moses ging in die Wüste, Christus wirkte auf dem Lande und bei Heiden, Luther an einer Reformuniversität im ostdeutschen Kolonialgebiet, die Vereinigten Staaten waren ein adelsfreier Außenposten Englands, Russland die agrarisch geprägte Randzone der industriellen Welt.

Schon eine andeutende Zusammenfassung von Schramms Typologie zeigt, wie fruchtbar sie ist. Und all das trug der hochgelehrte Autor in einem fast altfränkischen Ton vor, dem man zwar langes Nachdenken anmerkte, aber kaum die theoretische Anstrengung. Gäbe es ihn, man hätte Schramm den "Jacob-Burckhardt-Preis für wissenschaftliche Prosa" zuerkennen müssen. Längst sind die "Wegscheiden" in viele Sprachen übersetzt.

Man könnte nun meinen, Gottfried Schramm sei die Meisterlichkeit in die Wiege gelegt worden. Denn er war ein Sohn von Percy Ernst Schramm, einem der großen Mittelalterforscher des 20. Jahrhunderts. Percy Ernst war im Gegensatz zu einem Sohn Gottfried ein Großordinarius von raumgreifendem Auftreten und ostentativer Brillanz, dazu ein Vielschreiber, der es sogar schaffte, seine Zeit als Tagebuchautor beim Oberkommando der Wehrmacht im Führerhauptquartier als "Sabbatical" zu nutzen und mal eben 1400 Seiten über die Geschichte der Familie Schramm zu verfassen.

Aber so eine Herkunft aus einer Patrizier- und Gelehrtenfamilie kann auch bedrücken. Gottfried Schramm verlegte sich gezielt auf seinem Vater ganz fremde Gebiete. Er wurde Slawist und Osteuropa-Historiker. Hier bearbeitete er Themen, die von der Völkerwanderung bis zum Stalinismus reichten. Schramms Originalität bestand in der methodischen Verbindung von Sprach- und Literaturgeschichte mit Sozialgeschichte. Den alten Streit über die slawischen oder warägisch-germanischen Ursprünge Russlands versuchte er durch eine differenzierte Untersuchung von Namen und Sprachformen des 9. und 10. Jahrhunderts zu beruhigen und zeichnete dabei ein kleinteiliges Bild von Aneignungen und Assimilationen, weitgespannten Handelnetzen und losen Herrschaftsformen.

Ein anderes wundervolles Buch charakterisierte die russische Literatur des 19. Jahrhunderts im Kontrast zur gleichzeitigen Literatur der westlichen Nationen. Wahrhaftigkeit und Radikalismus der russischen Klassiker seit Puschkin erklärte Schramm mit ihrer sozialen Isolierung in einem weitgehend analphabetischen Land. Wer in Russland dichtete, tat dies auf eigene Rechnung, nicht als Teil einer kultivierten Klasse. Diese und viele andere Studien, darunter ein großes Werk zur Reformation in Polen, bereiteten Schramm auf sein epochenübergreifendes Spätwerk vor.

Übrigens hat er die Frage, ob die Entstehung des Islam im arabischen Vorgelände der spätantiken Religionen, vorangetrieben durch eine junge Ritterkaste, kodifiziert in einem heiligen Buch (so wie ihre monotheistischen Vorläufer), nicht hervorragend in seine Typologie passe, als sechste "Wegscheide", entschieden verneint. Doch die Frage zeigt die Anregungskraft des Ansatzes.

© SZ vom 02.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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