Nachruf des Chefredakteurs:Der Welterklärer

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Joachim Kaiser - geboren 1928 in Ostpreußen, gestorben 2017 in München - in seinem Arbeitszimmer zwischen Notenschrank und Flügel. (Foto: Isolde Ohlbaum)

Joachim Kaiser war ein herausragender Journalist, ein sehr besonderer Intellektueller und der letzte Großkritiker. Die "Süddeutsche Zeitung", in deren Redaktion er 1959 eintrat, verdankt ihm viel.

Von Kurt Kister

Und wenn es denn diesen einen, einzigen Text gäbe, den man lesen sollte, um Joachim Kaiser, den Menschen, zu verstehen, dann wäre es ausgerechnet ein Interview aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2005 hat es Frank Schirrmacher mit Kaiser geführt. Schirrmacher, der 2014 starb, konnte ein großer Schalksnarr sein; Kaiser auch. Schirrmacher war aber auch ein Bewunderer Kaisers, von dem ihn eine Generation trennte, mit dem ihn aber trotzdem viel verband. Schirrmacher fragte Kaiser nach seinem Gehalt bei der SZ (sie zahle "gewiss nicht genug"), nach seinem Verhältnis zu Dackeln ("ich habe nichts gegen Dackel"), aber auch nach Heinrich Böll, Auschwitz und Adorno.

Joachim Kaiser war ein außergewöhnlicher Mensch, ein herausragender Journalist, ein sehr besonderer Intellektueller. Und er war der letzte Großkritiker. Auch nach Kaiser wird es weiter Feuilletonisten geben. Weil sich aber die Zeit so gewandelt hat, werden die Urteile nie wieder jene Wirkung, jene Wucht, vielleicht sogar jene Wahrheit haben wie das bei Joachim Kaiser oder Marcel Reich-Ranicki der Fall war.

Kaiser allerdings war keineswegs nur ein Be- und Verurteiler. Er war auch ein großer Pädagoge, der möglichst vielen Menschen im besten Sinne des Wortes die Welt erklären wollte - seine Lese- und Erklärreihen über Beethoven, Mozart oder große Pianisten zogen Kenner in den Bann und faszinierten Neulinge. Das lag auch daran, dass Kaiser ein Erzähler war, ein Mann, der es trefflich verstand, seine ostpreußische Sprachfärbung, große Gesten und einen Begriffsschatz einzusetzen, der zwischen Pathos und Zärtlichkeit changierte.

Er machte Lust auf Musik, auf Debatte, auf Geschriebenes

Man konnte Joachim Kaiser widersprechen, gewiss. Meistens wollte man es nicht. Er hatte eine Aura vornehmer Autorität, die einen auch dann zögern ließ, wenn er etwas sagte oder schrieb, mit dem man nicht einverstanden war. Hätte Joachim Kaiser in Großbritannien gelebt, er wäre längst geadelt worden. In Wirklichkeit ist er einer jener seltenen Glücksmenschen gewesen, die sich selbst adeln können.

Die Süddeutsche Zeitung hatte und hat viele interessante Autorinnen und Autoren, manche sehr gute und einige brillante. Etliche von ihnen sind leidlich prominent, manche fühlen sich nur so. Joachim Kaiser war auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Er schrieb über den Kulturbetrieb und er war der Kulturbetrieb, mindestens aber ein wichtiger Teil davon. Kaiser kannte all jene Musiker, Schriftsteller und Intellektuellen, die wir anderen studiert, gelesen oder aus der Ferne analysiert haben. Man sagt es, zumal wenn einer stirbt, manchmal leicht dahin: Er hat die Zeitung, gar das Land geprägt.

Bei Joachim Kaiser stimmt das. Es war so. Er gehörte zu jenen Menschen, die das geistige Klima in Westdeutschland beeinflusst haben; seine Artikel und Aufsätze waren - und hier ist dieser Begriff nicht fehl am Platze - Teil der Leitkultur. Diese Leitkultur aber hat nichts Engstirniges, Xenophobes oder Ausschließendes. Kaiser brachte Menschen zur Kultur, erklärte ihnen Musik, Romane, Lyrik. Er erläuterte mit Leidenschaft, ja pädagogischem Eros ihre Bedeutung für das Sein, das gesellschaftliche Sein und die Existenz des Individuums. Joachim Kaiser machte Lust auf Musik, auf Debatte, auf Geschriebenes, weil er selbst so viel Lust daran hatte. Und er zeigte, wie man sich mit jener Welt, in der man lebt, gebildet, kontrovers, entschieden auseinandersetzen kann.

Diese Zeitung, diese Redaktion ist Joachim Kaiser unendlich dankbar. Er kam zur Süddeutschen, als ihre allmähliche Entwicklung vom Münchner Blatt zur auflagenstärksten seriösen überregionalen Zeitung begann. So wie er das geistige Klima der Republik mitbestimmte, übertrug er auch seine Reputation als Intellektueller, als Großkritiker auf die Zeitung. Man weiß nicht so genau, ob er mit der Zeitung oder wohl eher die Zeitung mit ihm groß geworden ist. Jedenfalls wäre die Süddeutsche ohne Joachim Kaiser nie das geworden, was sie heute ist. Er war ein ganz Großer.

© SZ vom 12.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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