Nachruf:Der Zwist der Götter und die Ruhe

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René Girard, der religiös motivierte Gegenspieler der Strukturalisten, ist tot.

Von Joseph Hanimann

Dank Figuren wie ihm hatten die Gegenstimmen zur "French Theory" das letzte Wort. Es waren Stimmen, die sich als die des "Realen" verstanden, gegen jene der Generationsgenossen Lévi-Strauss, Foucault, Derrida, welche die Mythen, Religionen, literarischen Texte, philosophischen Systeme vor allem für struktural zerlegbare Produkte der Fantasie hielten. Der Philosoph, Anthropologe und Religionsforscher René Girard weigerte sich jedoch, den Trieb, den Mythos oder das Kunstwerk einfach als Strukturelement eines immanenten Bedeutungssystems aufzufassen. Er suchte die gesellschaftliche und psychologische Wirklichkeit dahinter. Dieser klassische Zugang wirkte vielleicht intellektuell weniger brillant als jener, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Paris triumphierte. Da traf es sich gut, dass Girard wie der Philosoph Michel Serres und andere Außenseiter der französischen Geistesgeschichte seine universitäre Karriere in Amerika machte.

Der 1923 in Avignon Geborene war gleich nach dem Krieg mit einem Stipendium in die USA übersiedelt, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte, zuletzt in Stanford. Sein Werk dreht sich im Wesentlichen um das Thema von Sakralität und Gewalt und entwickelte sich um den Begriff des Mimetischen. Schon in seinen frühen literarischen Studien über Proust, Stendhal und Dostojewski kam er zu dem Schluss, dass unserer Triebleben sich nicht einfach zwischen einem Subjekt und einem begehrten Objekt abspielt, sondern in einer Dynamik der Nachahmung: Man begehrt etwas umso mehr, als andere es auch begehren, was eine wachsende Rivalität des Begehrens zur Folge hat.

Diese Theorie veranlasste den Franzosen auch zur Kritik an Freud. Ödipus geriet in seiner Neigung zu Jokaste nicht nur mit seinem Vater in Konflikt, gab er zu bedenken. Zur Vollendung kam das Denken Girards, als es im Buch "Das Heilige und die Gewalt" (1972) in einen anthropologischen Zusammenhang gestellt und von der "Sündenbock"-Theorie ergänzt wurde.

So gut wie alle Gründungsmythen erzählen von der kollektiven Liquidierung eines Einzelnen, lehrt Girard dort. Diesen Akt versteht er als schiere Überlebensstrategie der Gemeinschaft in einer Situation, in welcher der rivalisierende Gewaltmechanismus eines jeden gegen jeden die Gemeinschaft auszulöschen droht. Man sammelt sich dann um ein Einzelsubjekt, den Fremden oder einfach "Anderen", bezeichnet ihn als Bedrohung, tötet ihn und verwandelt ihn dann in einen Gott, denn dank ihm ist nach dem Lynchmord Frieden eingekehrt, zumindest vorläufig.

Ein Gesellschaftsvertrag, wie die moderne Philosophie ihn dachte, wäre laut Girard nie stark genug, das Gewaltpotenzial in der Gesellschaft zu meistern. Alle archaischen Götter haben also einen doppelten Ursprung: Sie sammeln den Zwist und bringen dann Ruhe. Da diese aber nie dauerhaft ist, muss sie im Opferritual, später auch in der kathartischen Wirkung des griechischen Dramas, erneuert werden. Die Leistung der großen monotheistischen Religionen lag nun darin, dass sie die Beliebigkeit des Sündenbock-Mechanismus bloßstellten und die Vorstellung des Heiligen von der um das Opfer versammelten Menge ins Gewissen des Einzelnen verpflanzte. Im Studium der Bibeltexte - Girard war zum bekennenden Katholiken geworden - untersuchte er diesen Prozess in all seinen Varianten. Man kann ihn als einen Aufklärer nicht gegen die Religion, sondern aus ihr heraus bezeichnen.

Seine "mimetische Theorie" brachte ihn, der in seinen frühen amerikanischen Jahren noch um eine Vermittlung der französischen Denkbewegung um Roland Barthes, Jacques Derrida, Jacques Lacan bemüht war, jedoch zusehends in Kritik gegenüber den berühmt gewordenen Pariser Kollegen. Da die moderne Forschung auch nach Jahrhunderten fruchtloser Anstrengung das Rätsel der Mythen nicht zu entziffern vermöge, sei dieses im Strukturalismus einfach liquidiert und zur bloßen Scherzfrage erklärt worden, schieb Girard im Buch "Die verkannte Stimme des Realen".

Dem Begründer der strukturalen Analyse, Claude Lévi-Strauss, warf er vor, sich mit seinem "szientistischen Puritanismus" um den Realitätsgehalt der Mythen herumgedrückt und damit indirekt deren überkommene Tabus bestätigt zu haben. Unentwegt stellte er, zuletzt im Buch "Clausewitz zu Ende denken" (2007), die gängigen Aggressionstheorien infrage. Die französische Universität zahlte es ihm mit hartnäckiger Gleichgültigkeit heim, und in Deutschland wurde er überhaupt erst in den letzten Jahren zur Kenntnis genommen. Der Einzelgänger, seit 2005 Mitglied der Académie française, weckte hier angesichts der Aktualität von Religion und Gewalt ein neues, starkes Interesse. Nun ist René Girard im Alter von 91 Jahren nach langer Krankheit in Stanford gestorben.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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