Nachruf:Der Mann, der viele Leben lebte

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Er war Berater und Redenschreiber von Willy Brandt, er war der begnadete Biograph von Thomas Mann, Pfarrerssohn und Weltgeist: Zum Tod des Publizisten und Schriftstellers Klaus Harpprecht.

Von Heribert Prantl

Die katholische Kirche hat der evangelischen Kirche die Macht voraus, die Pracht und die Herrlichkeit. Aber eines fehlt den Katholiken komplett; und es wird ihnen fehlen, solange das Zölibat für ihre Priester gilt: Es fehlt ihnen die Kraft, die im evangelischen Pfarrhaus steckt. "Ohne Pfarrhaus", so hat der französische Germanist Robert Minder einmal geschrieben, "oder zumindest ohne lutherischen Hintergrund, sind auch die Größten: ein Leibniz, ein Bach, ein Goethe nicht zu verstehen." Das Pfarrhaus, die Familie dort, war und ist ein seelisch-geistiger Mittelpunkt der deutschen Kulturgeschichte.

Die Liste der berühmten Deutschen, die aus evangelischen Pfarrhäusern stammen, ist lang: Gryphius, Gottsched, Lessing, Lichtenberg, Schlegel, Jean Paul, Schinkel, Schliemann, Benn, Hesse, Pufendorf, Schleiermacher, Schelling. Selbst Nietzsche, der die Religion und ihre Geistlichen mit Beschimpfungen überzog, hat im Christentum des evangelischen Pfarrhauses "das beste Stück idealen Lebens" sehen wollen. "Von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen", schrieb er 1881 an einen Freund, "in viele Winkel, und ich glaube, ich bin nie in meinem Herzen gegen dasselbe gewesen. Zuletzt bin ich der Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen - vergeben Sie mir diese Beschränktheit."

Dieser Satz, dieser Gedanke könnte von Klaus Harpprecht stammen. Auch er stammte aus einem solchen Pfarrhaus, wuchs in einer Pfarrersfamilie auf, er entstammt einer Tübinger Juristen- und Theologendynastie. Der Gedanke an das Wesen des evangelischen Pfarrhauses hat Harpprecht bis zuletzt umgetrieben. Und wenn er seinen glanzvollen Büchern, etwa über die "Lust der Freiheit" oder den deutschen Revolutionär Georg Forster, und seiner Thomas-Mann-Biografie, die ein gut zweitausendseitiges Wunder ist, noch ein großes Werk hätte hinzufügen können, dann wäre es eines über das Wesen des evangelischen Pfarrhauses gewesen.

Davon, von einem solchen Buch hat er, der Journalist und Publizist, der seine Karriere bei der Wochenzeitung Christ und Welt begann, der Kommentator war beim Sender Rias Berlin, beim WDR, immer wieder geredet, davon hat er seinen Gästen erzählt, wenn er sie in seinem Haus im südfranzösischen La Croix-Valmer mit Apfelkuchen bewirtete. Dort, in dem kleinen Städtchen nahe Saint-Tropez, lebte der Weit- und Vielgereiste seit dreißig Jahren, dort ging er, auch noch als er schon hoch in den Achtzigern war, seiner Leidenschaft nach: dem Journalismus - "der schönste, der schrecklichste alle Berufe", wie er ihn nannte. So heißt auch das Büchlein, das seine Vorlesungen im Rahmen seiner Theodor-Herzl-Dozentur zur Poetik des Journalismus in Wien zusammenfasst.

Das Schreiben versprach ihm ein gesteigertes Leben. Das hielt es dann auch

Harpprechts Buch über den Revolutionär Georg Forster hat den Untertitel "Die Liebe zur Welt". Diese Liebe zur Welt war auch die seine. Darum liebte er den Journalistenberuf. Er kannte ihn in all seinen Facetten, und er verteidigte ihn beredt gegen seine Verächter und gegen angebliche ökonomische Zwänge. Er war Amerika-Korrespondent des ZDF, er war Korrespondent der Zeit in Paris, er war Chefredakteur von Geo, er war in vielen Ecken der Welt zugange. Er war beispielsweise dabei, als 1958 in Bagdad der damalige Diktator, den er kurz vorher interviewt hatte, von einer Gruppe junger Offiziere beiseitegefegt wurde - darunter war "ein ehrgeiziger junger Hauptmann namens Saddam Hussein". Damals war Harpprecht 31 Jahre alt, und Saddam Hussein war 21.

Das Wort, das geschliffene Wort, war das Handwerkszeug des Stilisten Harpprecht - in seinen politischen Artikeln, in seinen Büchern. Journalismus, so hat er einmal seinen Studenten gesagt, "das ist die Chance, viele Leben zu leben". Harpprecht war ein leidenschaftlicher Mensch, einer, der wie ein Berserker arbeiten konnte, schier ohne Rast, nur ein wenig auf und ab wippend im Schaukelstuhl seines Arbeitszimmers.

Harpprecht war Leiter des S. Fischer-Verlages, Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift Der Monat; und dann das, was sein weiteres Leben prägte: Chef der "Schreibstube" (wie er sie nannte) und Berater des Bundeskanzlers Willy Brandt; er war, drei Jahre lang, dessen Redenschreiber. Und von da an war er, bis zum Ende seines Lebens, rührend verliebt in diese Zeit. Jedes Wort, das er für Brandt geschrieben hatte und das der dann von ihm übernahm, bewahrte er in seinem Herzen wie eine Reliquie. Es waren viele Worte, viele gute Sätze: Der Begriff von der "neuen Mitte" stammt von Harpprecht, und mit dem Satz "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land" half er dem Bundeskanzler, sich und die Sozialdemokraten als Patrioten zu etablieren.

Klaus Harpprecht (1927 - 2016). (Foto: Arno Burg/dpa)

Der Sinn für politische Moral war das, was bei Harpprecht vom christlichen Glauben übrig blieb, als er sich vom Gott seines Vaterhauses entfernt hatte. Und die Schoah war für ihn eine Schuld der Deutschen, in einem fast religiösen Sinn; der Verantwortung, die daraus erwuchs, fühlte er sich als Schriftsteller und als Journalist verpflichtet. Ein ergreifendes Buch hat Harpprecht über den Gefängnisgeistlichen Harald Poelchau geschrieben, den Pfarrer im Dritten Reich, der mehr als tausend Menschen, unter ihnen viele Widerstandskämpfer, beigestanden und sie auf ihrem letzten Weg begleitet hatte - und der selber ein stiller Held des Widerstandes war. Seit Ende der Fünfzigerjahre war Harpprecht verheiratet mit der Autorin Renate Lasker-Harpprecht, die das KZ Auschwitz überlebt hatte. Sie war ihm eine warme, kritische und auch scharfzüngige Gefährtin.

An was glaubte er? Er glaubte an die Freiheit der Presse als ein "Kraftwerk der Demokratie", und er glaubte - wie viele der Menschen, die in den Fünfzigerjahren (die er nicht für reaktionäre, sondern für glorreiche Aufbruchsjahre hielt) politisch sozialisiert wurden - an die aufklärerische Kraft Amerikas. Diesen Glauben ließ er sich nicht nehmen, trotz aller Menetekel.

Eigentlich hatte Klaus Harpprecht Musiker werden wollen; die Pianistenträume scheiterten an einem verkrüppelten kleinen Finger. Der halbwüchsige Klaus sah sich dann als Dirigenten. "Ein erwachsener Esel", so klagte er noch als eleganter alter Herr, habe ihm eingeredet, dass es dazu das absolute Gehör brauche. Also wurde er Journalist und Schriftsteller, weil ihm Schreiben "ein gesteigertes Leben" versprach. Das hielt es dann auch.

Wenn Harpprecht, und das tat er oft und gern, von Nizza nach Berlin flog und dann in einem Hotel logierte, sammelte er junge, kluge Menschen um sich, am allerliebsten junge Frauen - aber immer gesittet. Er war nicht nur ein Schreiber von protestantischem Arbeitseifer, sondern, zu gegebener Zeit, auch ein Bohèmien; er liebte es jedenfalls, sich so zu fühlen. Er war ein Verfassungspatriot und ein undogmatischer, geistreicher Mensch, ein Liebhaber des Lebens. Am Mittwoch ist Klaus Harpprecht im Alter von 89 Jahren in La Croix-Valmer gestorben.

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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