Nachruf:Der Literaturgelehrte M. H. Abrams ist tot

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Er war einer der großen Gelehrten seiner Generation, auch Thomas Pynchon saß ihm zu Füßen: Nun ist M.H. Abrams gestorben.

Von Klaus Birnstiel

Was ist das Wesen, der Kern von Poesie? Auf diese alte abendländische Frage hatte der amerikanische Literaturwissenschaftler Meyer H. Abrams, der am Dienstag im Alter von 102 Jahren in Ithaca, New York gestorben ist, eine Antwort. Drei Dimensionen machen für ihn die Dichtkunst aus: die Art und Weise, wie sie die Welt in die Texte holt, ihre Wirkung auf das Publikum, und schließlich ihr Verhältnis zu dem Geist, der sie geschaffen hat, dem Autor. Zu lange, so Abrams, habe sich die Literaturwissenschaft, aber auch die Literatur selbst, beinahe ausschließlich mit dem ersten Aspekt beschäftigt: wie kommt die Wirklichkeit in die Bücher?

In seiner Studie "The Mirror and the Lamp" (1953) blies Abrams zum Angriff auf die Poetik der mimesis, der Nachahmung, derzufolge der Dichter die Welt wie ein Spiegel reflektieren soll. Erst die Romantik hat mit dieser Literaturmechanik aufgeräumt, indem sie an Stelle des Spiegels die Lampe setzte, mit welcher der Dichter die Welt beleuchtet. So verschob sie den Fokus in Richtung auf das Individuelle, höchst Eigene des Dichters.

1912 in New Jersey als Sohn jüdischer Einwanderer geboren, trat Abrams in den dreißiger Jahren in die akademische Welt der Ostküste ein, im Schatten der großen Depression. Hinzu kam der manifeste Antisemitismus an den Hochschulen. Ein jüdischer Englischprofessor? Unmöglich, beschied man ihn. Erst 1945, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Abrams an die Cornell-Universität im Staat New York berufen, der er vierzig Jahre lang die Treue hielt. Seinen Unterricht hörte die gesamte nächste Generation der "critics". Auch der große Postmoderne Thomas Pynchon saß bei ihm in der Bank. Seine Nachschlagewerke und Anthologien finden sich noch heute in der Tasche einer jeden Anglistik-Studentin. Bis ins hohe Alter pflegte Abrams die Neuauflagen seiner "Norton Anthology of English Literature", hie und da erschien der eine oder andere Essay. Sein Hauptwerk "The Mirror and the Lamp" findet sich inzwischen leicht greifbar im Internet.

© SZ vom 24.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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