Nachruf:Das Vorbild der Historiker

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Parlament, Parteien, Arbeiterbewegung und Sozialstaat: Gerhard A. Ritter (1929-2015) war einer der Väter der Sozialgeschichte. (Foto: Gerhard A. Ritter/dpa)

Gerhard A . Ritter prägte das kritische Geschichtsverständnis der Bundesrepublik. Jetzt ist er im Alter von 86 Jahren in Berlin gestorben.

Von Jürgen Kocka

Gerhard A. Ritter gehörte zu einem halben Dutzend herausragender Historiker, die das Fach Geschichte in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren am tiefsten geprägt und am glänzendsten vertreten haben. Er war einer der Väter der deutschen Sozialgeschichte, wahrscheinlich der wirkungsvollste. Er war ein großer Komparatist, der die deutsche Geschichte in ihren europäischen Zusammenhängen begriff. Er hat viel zu einem kritischen, nicht national fixierten Geschichtsverständnis der Bundesrepublik und damit zu ihrer politischen Kultur beigetragen. Er tat dies weniger als Mann der Medien, trotz einiger Interviews und Rezensionen, sondern indirekt: durch sein Werk, seine Schüler und Leistungen als Autor, Herausgeber und Organisator. Vor allem aber verkörperte Gerhard A. Ritter die Tugenden, die einen bahnbrechenden Historiker auszeichnen: Scharfsinn, größte Genauigkeit, Augenmaß und Sinn für Proportionen, Neugier und Offenheit für Fremdes, Neues, Überraschendes, internationales Ansehen. Es war wohl eine glückliche Übereinstimmung von Persönlichkeit und Werk, die Ritter zu einem am Ende fast unbestrittenen Vorbild seiner Zunft werden ließ. In mehreren Generationen schaute man ihm ab, wie es ging, auch wenn man sich an ihm rieb. Dieser Forscher lebte den Beruf und die Existenzform des Historikers vor.

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