Nach dem Beben:Seismik und Seele

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Donatella Di Pietrantonio: Bella mia. Roman. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 224 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 14,99 Euro. (Foto: Verlag Antje Kunstmann)

2009 wurde L'Aquila von einem Erdbeben zerstört. Donatella Di Pietrantonio folgt in "Bella mia" den Spuren der Zerstörung.

Von Jutta Person

Den Sekt der Regierung kippt sie sofort ins Spülbecken. Die Icherzählerin in Donatella Di Pietrantonios Roman "Bella mia" hat im Grunde keinen Hang zur Theatralik, aber dieser ostentative Handgriff - "den Flaschenhals direkt über den Abfluss" - musste wohl sein. Beim Einzug in die erdbebensicheren Übergangshäuser finden die obdachlos gewordenen Einwohner von L'Aquila im Kühlschrank einen Spumante, der ihnen die neue Umgebung verschönern soll. Die Zweckbauten, die nach den Zeltstädten errichtet wurden, sind allerdings so ziemlich das Gegenteil von sprudelnder Lebensfreude; es geht sowieso erst einmal darum, die äußeren und inneren Schäden zu begreifen und irgendwie ins Leben zurückzufinden.

Im Frühjahr 2009 wurde die Stadt L'Aquila, etwa hundert Kilometer nordöstlich von Rom in den Abruzzen gelegen, von einem Erdbeben zerstört. Hierzulande sind vor allem die Fernsehbilder der schuttgefüllten Altstadtgassen im Gedächtnis geblieben und Berlusconis Rat an die Einwohner, die Zeit nach dem Beben als Campingurlaub zu verstehen. Auch danach wurde es nicht besser: Der Wiederaufbau ging nur schleppend voran, die provisorischen Wohnungen wurden zu Dauereinrichtungen. Dass es zu solchen Erdbebenschäden überhaupt kommen konnte, lag auch daran, dass in den vergangenen Jahrzehnten fahrlässig gebaut worden war. Und dass so viele Opfer zu beklagen waren, hatte auch damit zu tun, dass die Bewohner kurz vor dem Hauptbeben noch beruhigt worden waren. Etwas Schlimmes sei nicht zu erwarten, hieß es von Behörden und Experten.

Diese Details der italienischen Misere kommen in "Bella mia" zur Sprache, aber Donatella Di Pietrantonio hat weder einen politischen Roman noch einen dokumentarischen Krisenbericht geschrieben. Ihre Aufmerksamkeit gilt den psychischen Katastrophen, die auf die geologischen folgen, kurz, dem Zusammenhang von Seismik und Seele. Im Zentrum des Geschehens steht Caterina, eine so spröde wie präzise Beobachterin, die mit ihrer Mutter und dem verwaisten Neffen eine Dreizimmerwohnung im neuen Viertel am Stadtrand bezogen hat. Die Mitglieder dieser Notgemeinschaft trauern auf sehr unterschiedliche Weisen um Olivia, Caterinas Zwillingsschwester und Mutter des halbwüchsigen Marco, die bei dem Erdbeben von einem Stützbalken erschlagen wurde, weil sie die entscheidenden paar Sekunden zu lang im Haus geblieben war.

Schon lange vor dem Erbeben gehen haarnadelfeine Risse durch alle Existenzen

Anfangs ziehen sich alle drei igelhaft in sich selbst zurück, die Mutter besucht den Friedhof, der Junge spricht kaum, und die Icherzählerin, die ihre Keramikwerkstatt wieder aufbaut, konzentriert sich ganz auf die Arbeit. Mit der Erziehung des pubertätsgeschüttelten Neffen ist sie überfordert, beobachtet ihn aber nicht ohne Sympathie: "Er krümmt sich wie einer, den gerade ein Ball in die Magengrube getroffen hat." Donatella Di Pietrantonio erstellt ein kleines, zurückhaltendes Gesten- und Bewegungsprofil, und Maja Pflugs Übersetzung findet einen unaufgeregten, manchmal auch vorsichtig ironischen Ton für diesen psychologischen Realismus. Wie beim Regierungssekt: Jeder Griff sitzt.

Donatella Di Pietrantonio, die selbst aus den Abruzzen stammt, lebt in der Nähe von Pescara und arbeitet als Zahnärztin; ihr Debütroman "Meine Mutter ist ein Fluss", der vor drei Jahren auch auf Deutsch erschien, erzählt die Geschichte einer Tochter, die das Leben der alternden Mutter, einer Bäuerin in den Abruzzen, rekonstruiert. Das ländlich Karge und auch sprachlich Verknappte hat einen festen Platz in der italienischen Literatur; man könnte an die piemontesischen Bergwelten des Davide Longo denken oder auch an das archaische Sardinien in den Romanen von Michela Murgia. Ähnlich ist auch Donatella Di Pietrantonios Roman "Bella mia" - so wird die Stadt L'Aquila in einem Volkslied genannt - in einer Region verwurzelt. Ein Regionalismus, der allerdings das genaue Gegenteil von verschwiemelter Heimatnähe bedeutet; meistens geht es um eher nüchterne Standortbestimmungen.

In "Bella mia" sind die haarnadelfeinen Risse entscheidend, die schon lange vor dem Erdbeben durch alle Existenzen gingen. Nach der Katastrophe wird Caterina gezwungen, sich mit ihrem Verhältnis zur Zwillingsschwester auseinanderzusetzen: Olivia war die Lebenslustigere von beiden, und die Vorsichtigere war lange überzeugt, schon im Mutterleib einen "Urnachteil erlitten zu haben". Manchmal schrammt diese Aufarbeitung ins Therapeutische, verstärkt durch die Keramikfiguren, mit denen der erstarrte Zwilling den Schmerz allmählich überwindet; auch die beginnende Liebesaffäre kommt nicht ohne das ein oder andere Frühlingsklischee aus. Trotzdem: Die Stärke dieses 220 Seiten kurzen Romans besteht darin, an minimalistischen Bewegungen eine darunterliegende Psychotektonik sichtbar zu machen. Die Mutter kocht, die Schwester raucht, der Junge stellt den Kragen hoch. Manchmal hat die ausgelaugte Floskel vom seismografischen Schreiben eben doch ihre literarische Berechtigung.

© SZ vom 29.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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