Musikfestival:Geschichts- und Sehnsuchtsstunde

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Die "Adevantgarde" verlangt viel von Musikern und Hörern

Von Rita Argauer und Klaus Kalchschmid, München

Dass man in der Kunst wieder politisch sein möchte, blitzt derzeit in verschiedener Ausprägung durch. Zuletzt beim Festival "Dance", nun beim Anarcho-Komponisten-Fest "Adevantgarde". Dort hat man auf dem Celibidache-Forum - diesem für jedwede Art der öffentlichen Kunst-Intervention ausgesprochen beliebten Gasteig-Innenhof - eine Occupy-Bühne aufgestellt. Auf ihr begrüßt das Verworner-Krause-Kammerorchester, kurz VKKO, neben anderen mit lärmendem Blechbläser-Techno sowohl die Besucher der Philharmoniker als auch die des eigenen Festivals.

"Fenster auf! Nikel" war danach in der Black Box ein großartiger Abend mit Musik für Saxofon, E-Gitarre, Klavier und Schlagzeug, gespielt vom gleichnamigen Ensemble Nikel. Für diese, man könnte fast sagen "Band-Formation" zwischen Rock, Pop, Jazz und klassischer E-Musik sind seit ihrer Gründung 2006 zahlreiche Stücke - und daraus folgend weltweit Quartette in dieser Besetzung - entstanden. Die Werke sind so unterschiedlich wie Stefan Prins' experimenteller "Fremdkörper#2", der die Charakteristika der Instrumente bis zur Unkenntlichkeit überschreibt, oder Philippe Hurels vor Energie - und reicher Melodie, Harmonie und Rhythmus - nur so berstende "Global Corrosion" zum Finale. Das Stück verlangt den vier Musikern ein Höchstmaß an Präzision, Reaktionsvermögen, Kraft und lebendiger Ausdrucksgewalt ab, die Yaron Deutsch, Patrick Stadler, Brian Archinal und Antoine Françoise freilich bis hinein in die Fingerspitzen besaßen.

Die Uraufführung von Markus Münchs "body_scan" führte konsequent darauf zu; nicht zuletzt geschah das in der sehr persönlichen und raffinierten Ausprägung der guten alten Minimal Musik, aber auch durch Verfremdungen mit Clicks, Sinusklängen oder einer Stimme aus dem Apple-Voice Over.

Ann Cleares "the square of yellow light is your window" besaß dafür fast die Struktur eines klassischen Quartetts - mit dem Saxofon als Melodieinstrument, das die riesige Netzhaut einer Libelle mit ihren tausenden lichtempfindlichen Zellen verkörperte, während man sich das Trio als Lebewesen in der Tiefsee vorstellen sollte - und konnte.

Ebenfalls an das VKKO anschließend fand der Liederabend "Eine Tollerey 1917/2017" statt, der sich inhaltlich auf eine politische und künstlerische Tradition Münchens bezog, die vor 100 Jahren links, anarchistisch, künstlerisch weit vorne und ein "melting pot" gewesen war. Die Uraufführungen von neun Liedern zu Texten von Ernst Toller, Rainer Maria Rilke oder Oskar Maria Graf standen 2017 an. Und manche tragen die vergangene Wut schallend ins Jetzt, etwa Markus Lehmann-Horns Noise-Chanson "Menschenleben".

Ein anderes erzählt eine imaginäre Begegnung von Toller und Rilke, großartig gesungen und gesprochen von Bariton Peter Schöne. Manche versinken jedoch voller Ehrfurcht vor der vergangenen politischen Avantgarde in Ausdruckslosigkeit. Eine Geschichtsstunde also, die vielleicht auch ein bisschen eine Sehnsuchtsstunde für die Komponisten ist. Eine reale Politik-Kunst zeigt sich Tags darauf jedoch erneut in einem krachenden VKKO-Auftritt beim Festival Milla-Walky-Talky. Die Westermühlstraße wird als Bühne okkupiert und Kompositionen Neuer Musik faszinieren fernab des Fachpublikums eine ganze Menge Menschen. Intervention gelungen.

© SZ vom 29.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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