Münchner Kammerspiele:Zum Entzücken und Erschaudern des Publikums

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Julien Gosselin befasst sich gerne mit Stoffen von Michel Houellebecq. Nach "Elementarteilchen" (Bild) verschmilzt er weitere Romane für die Bühne. (Foto: Kammerspiele)

Im zweiten Jahr seiner Intendanz wird Matthias Lilienthal seiner Linie treu bleiben. Er setzt auf unkonventionelle Theaterformen, bringt aber auch Shakespeare und Houellebecq auf die Bühne - und holt Marthaler

Von Egbert Tholl

Der Intendant der Kammerspiele Matthias Lilienthal schreibt in dem reich bebilderten Buch, in dem das Programm der Saison 2016/17 präsentiert ist, ein Vorwort. Dieses endet mit dem Satz: "München hat das großartigste Theaterpublikum im deutschsprachigen Raum - und davon haben die Kammerspiele die tollsten, nämlich die konfliktfreudigsten und loyalsten Zuschauerinnen und Zuschauer der Stadt." Im Laufe der Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen Programms sagt Lilienthal dann noch, am Berliner HAU, das er zuvor geleitete hatte, habe man "sieben Jahre gebraucht, um sich zuschauertechnisch durchzusetzen".

In München hingegen sind die Zahlen erstaunlich gut, wie Oliver Beckmann, der geschäftsführende Direktor, berichtet. Von Beginn der laufenden Saison im Oktober 2015 bis Ende März 2016 kamen mit 98 000 etwa so viele Besucher wie im gleichen Zeitraum in der letzten Saison von Johan Simons in die Kammerspiele, die Auslastung liege bei 75 Prozent, die Einnahmen seien stabil, trotz einer deutlichen Erhöhung des Anteils studentischen Publikums - der Anteil der Studentenkarten sei im Vergleich zur Vorsaison von 13 auf 28 Prozent gestiegen. Wenn man dazu bedenkt, dass gerade das Residenz- und das Volkstheater Rekordauslastung vermelden können, dann bedeutet dies: Die Kammerspiele generieren ein neues Publikum, und zwar eines, das in Teilen offenbar bislang nicht ins Theater gegangen ist.

Das ist bemerkenswert, aber angesichts der vielen Popkonzerte, Gastspiele und Diskussionsveranstaltungen der Kammerspiele auch nicht sehr überraschend. Dies bleibt übrigens in der kommenden Saison weitgehend gleich, also Pop, Reden und ein liebevolles Umsorgen des Publikums im Café-Haus, beim Kochen und in Einführungen und Erklärungen. Lilienthal meint dann auch, das Projekt, das ihn in der laufenden Saison am meisten berührt habe, sei das "Welcome Café" für "Menschen mit und ohne Fluchterfahrung".

Aber nun: Theater. Gibt es in der nächsten Saison auch, sogar reichlich viel davon, was man schon daran merkt, dass Lilienthal und sein Chefdramaturg Benjamin von Blomberg drei Regisseure an den Tisch der Pressekonferenz setzen. Überhaupt hat so eine Präsentation ja auch immer einen gewissen theatralen Wert. Hier hat man nun den sehr freundlichen Gastgeber Lilienthal, den sehr verschrobenen Dramaturgen Blomberg, der das Publikum mit einem langen "äh" begrüßt und dann in leicht verschwurbelte Regionen seines sicher klugen Kopfes abtaucht. Man hat zwei Regisseure, Julien Gosselin und Amir Reza Koohestani, die sich in mühevoller Arbeit durch den tiefen Boden der englischen Sprache ackern. Und das Duo Makiko Yamaguchi und Toshiki Okade; sie übersetzt, er wird inszenieren, und zwar ein Stück mit dem Arbeitstitel "Nô Theater". Sprich: Okade, den man in München gerade von Gastspielen mit seiner Gruppe Chelfitsch her kennt, wird mit den Münchner Schauspielern ein Stück in der uralten, stilisierten Theaterform Japans machen, inklusive einer Gespenstergeschichte und einer kleinen Komödie, die traditionell zum Nô dazugehört wie einst das Satyrspiel zur griechischen Tragödie.

Eröffnen wird die Saison am 29. September 2016 "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung": Amir Reza Koohestani, zwischen Teheran und Europa pendelnder Theatermacher, wird den Roman von Kamel Daoud inszenieren, in welchem dieser einem namenlosen Opfer eine Stimme gibt. Das Opfer stammt aus der Weltliteratur, es ist jener Araber, den der Franzose Meursault in Albert Camus' Roman "Der Fremde" ohne erkennbaren Grund erschießt. Koohestani macht nun aus Daouds Replik auch ein Projekt über die Schwierigkeiten des Verstehens.

Dann folgt im Oktober ein mehrtägiger, von Philipp Quesne entworfener Zirkus der Performance-Kunst mit illustren Gästen ("The greatest show on earth", 13. bis 16. Oktober), eine Inszenierung von Yael Ronen, ein Houllebecq-Doppelabend von Julien Gosselin. Gosselin, ein profunder Kenner des Werks des französischen Romanciers, wollte nicht dessen "Unterwerfung" allein inszenieren, also nimmt er dessen früheren Roman "Plattform" mit hinzu. Der eine erschien unmittelbar vor 9/11, der andere vor dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Gosselin hat auch eine eigene Theatertruppe, die zwar bei der Arbeit in München keine Rolle spielen wird, aber hier genannt sei, weil sie einen wunderbaren Namen hat: "Wenn Sie mein Herz nur lecken könnten."

Hausregisseur Nicolas Stemann wird Tschechows "Kirschgarten" inszenieren, Hausregisseur Christopher Rüping "Hamlet" - es gibt also zwei echte Dramentexte. Noch dazu Klassiker. Auch Philippe Quesne nimmt sich ein Stück vor, Shakespeares "Sturm". Insgesamt stellt Lilienthals zweite Spielzeit keine Abkehr von der Linie der ersten dar - er selbst meint auch, man brauche "drei Jahre für den spezifischen Versuch, der an dem Haus stattfindet". Zwar werden weniger Performance-Gruppen versuchen, mit den Schauspielern der Kammerspiele gemeinsam etwas zu erfinden, aber wiederkehren werden: Alexander Giesche mit zwei Projekten, Rabih Mroué, Rimini Protokoll und David Marton. Ersan Mondtag, gerade mit "Tyrannis" bei "Radikal jung" zu Gast, wird sich mit dem NSU auseinandersetzen und zum Abschluss der Saison, im Juni 2017, kehrt Christoph Marthaler zum ersten Mal seit 2002 nach München zurück und inszeniert "Tiefer Schweb" - das ist die tiefste Stelle des Bodensees.

© SZ vom 29.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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