Mittelmeer:Zwei Schritte zum Nichts

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Vergittert: Blick auf das Meer an der ligurischen Küste. (Foto: Regina Schmeken)

Die Romanauszüge, Essays und Gedichte der Anthologie "Leeres Zentrum" zeigen, wie die Literatur der Moderne das Mittelmeer als Krisenregion entdeckte.

Von Lothar Müller

Er heißt wie sein Instrument: Banjo. Er stammt aus der Baumwollregion im Süden Amerikas. Er war Schauermann, Fabrikarbeiter, Stallbursche und als Matrose schon zweimal in Genua, einmal in Barcelona. Jetzt ist der Vagabund in der Stadt seiner Seemanns-Träume, in Marseille, hat eine Idee im Kopf ("Schwarze Faxenmacher aus Amerika sind heutzutage überall gefragt") und streunt mit wiegendem Gang durch die Menge am Strand, inmitten von "Deportierten aus Amerika, die gegen die Einwanderungsgesetze der Vereinigten Staaten verstoßen hatten, alle voll Furcht und Scham bei dem Gedanken, in ihre Heimatländer zurückkehren zu müssen, alle gestrandet in diesem grandiosen Hafen der Provence".

Gute Anthologien folgen einer Idee, die sie zusammenhält. In dieser Anthologie über das Mittelmeer ist dies der Abschied vom römischen "mare nostrum" in der literarischen Moderne, die Verwandlung der Inseln und Landschaften, die im Zentrum der europäischen Antikensehnsucht gestanden hatten, in Projektionsflächen des Krisenbewusstseins. Darum taucht Banjo auf, der Held des gleichnamigen Romans von Claude McKay, der im Jahr 1929 erschien, als sein aus Jamaika stammender Autor zu einem der Stars der "Harlem Renaissance" wurde. Mit ihm kommt Luft aus der atlantischen und pazifischen Welt nach Marseille. Er trifft dort auf die Flüchtlinge, die im Roman "Transit" (1944) von Anna Seghers von den Lagern der Nazis erzählen und sich um das Schiff nach Casablanca oder das Visum für Caracas sorgen.

Der Matrose und Vagabund Banjo streunt durch Marseille, umgeben von Deportierten

Zu den Flüchtlingen gesellen sich die Heimkehrer, die, anders als Odysseus, ihre Häuser nicht mehr wiederfinden. So geht es dem Dichter Giorgos Seferis bei seiner "Ionischen Reise", als er 1950 in das Smyrna seiner Kindheit kommt, das 1922 im griechisch-türkischen Krieg niederbrannte: "Nach dem Essen zwei Schritte zum Platz unseres Hauses: Das Nichts. Dann noch ein paar Schritte zum ,Kai'. Du entzifferst mit Mühe erloschene Buchstaben. Ich bin ganz woanders."

Von Smyrna, das zum türkischen Izmir wurde, geht es nach Osten, und nach Istanbul. Und in die Levante, von dort nach Kairo und Alexandria. In dem Essay, den Marguerite Yourcenar 1940 über Konstantin Kavafis geschrieben hat, den griechischen Lyriker in Alexandria, wird der Abschied vom Mittelmeer des Klassizismus greifbar: "Der Mittelpunkt unserer antiken Geschichte ist die Akropolis von Athen. Kavafis' Humanismus führt uns durch Alexandria, Kleinasien, in geringerem Maße durch Byzanz und durch eine komplexe Reihe von griechischen Reichen, die sich immer weiter von dem entfernen, was uns als das Goldene Zeitalter erscheint."

Gedichte von Giuseppe Ungaretti und Erich Arendt erfinden das Mittelmeer der Gegenwart. Wie die Auszüge aus dem Roman "Banjo" gehört der 1944 publizierte Essay von Roland Barthes über seine Griechenlandreise 1938 zu den Erstübersetzungen dieser Anthologie. Er steht hier mit seiner Skepsis gegen die Statuen des Klassizismus an der Seite der jungen Deutschen Eugen Gottlob Winkler und Karl Eugen Gass, denen etwa zur gleichen Zeit die klassische Italienreise nicht mehr genügt und nicht mehr gelingt.

Drei historisch-politische Essays, die den Mittelmeerraum als Schauplatz der Durchdringung und Rivalität von Judentum, Christentum und Islam reflektieren, sind ebenfalls Erstübersetzungen. Der jüdische Gelehrte S. D. Goitein blickt 1955, nach der Staatsgründung Israels, auf die Geschichte der Juden im Mittelalter während der arabischen Herrschaft zurück und stellt - mit offenkundig aktuellem Nebensinn - die Effekte dessen heraus, was er "die jüdisch-arabische Symbiose" nennt. Der drusische Intellektuelle Amir Shakib Arslan will 1937 eine Renaissance der islamischen Zivilisation durch einen Islam befördern, der den Koran als Quelle der Förderung der Wissenschaften liest. Und Taha Hussein plädiert 1938 für eine kulturelle Vervollständigung der politischen Unabhängigkeit Ägyptens, die - gewissermaßen mit dem Rücken zum Islam - auf das antike Ägypten und seine engen Verbindungen mit Europa zurückgeht und den Islam in das alte Dreieck aus griechischer Literatur, Philosophie und Kunst, römischer Staatskunst und christlicher Religion integriert.

An die Seite dieser Zugriffe auf die europäische Tradition und den Norden aus südlicher Perspektive steht Léopold Sédar Senghor mit seinem 1949 für die UN verfassten Essay "Die Botschaft Goethes an die ,neuen Neger'". Gemeint ist hier nicht nur das Bündnis zwischen "Négritude" und europäischer Antike. Goethes Italienreise erscheint als Entwurzelung eines Nordeuropäers, der den Süden als Ferment in sich aufnimmt. Solche Entwurzelungen will diese Anthologie befördern.

Franck Hofmann, Markus Messling (Hrsg.): Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne. Eine Anthologie. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015. 288 Seiten, 15 Abb., 29,80 Euro.

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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