Migration:In Seenot

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Mit Hightech-Methoden analysieren die Forscher und Künstler des Kollektivs "Forensic Oceanography" exemplarische Fälle der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer.

Von Catrin Lorch

Die jungen Menschen tragen Helme und Shirts, auf denen "Ich rette mit" zu lesen ist. Das Mittelmeer erscheint auf diesen Videobildern ruhig. Die Besatzung der Juventa beobachtet die Umgebung. Als man einen kleinen blauen Kahn sichtet, steigen junge Männer und Frauen in Schlauchboote, auf denen sich Schwimmwesten türmen. Routiniert steuern sie die Flüchtlinge an, fragen über ein knackendes Megafon, ob Kinder an Bord sind. Bald steigen zwei, drei Dutzend Afrikaner in die Schlauchboote um, die sie zur Juventa  bringen.

Gerade ist die Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer wieder Thema in den Nachrichten, sei es wegen der Seawatch, die ohne Anlegeplatz unterwegs war Richtung Spanien; sei es wegen des "Masterplans", mit dem Horst Seehofer die Abschottung Deutschlands optimieren will. Die Filmbilder, die Ausgangspunkt des Werks "Blaming The Rescuers. The Juventa Case" des Kollektivs Forensic Oceanography sind, entstanden ein paar Seemeilen vor der Küste Libyens, von wo die meist afrikanischen Flüchtlinge Richtung Italien aufbrechen.

Das Manöver am 18. Juni des letzten Jahres war bald beendet, als weitere Kähne in Seenot entdeckt wurden. Deswegen wohl nahmen die Helfer das Boot eilig ins Schlepptau, statt es zu versenken. Der Tag blieb den Crews der Rettungsschiffe kaum in Erinnerung, gerade weil sie so vielen Menschen helfen mussten.

Doch dann ist das Schiff weg. Am 2. August wird die Juventa in Sizilien beschlagnahmt, direkt nachdem sich die Organisation "Jugend rettet" geweigert hat, einen "Code of Conduct" zu unterschreiben, der ihre Aktivitäten eingegrenzt hätte. Der Vorwurf: Die Freiwilligen hätten nicht, wie es im Einklang mit dem Seerecht steht, Menschen in Not gerettet, sondern mit Schleppern zusammengearbeitet, die Flüchtlinge direkt von ihnen übernommen und später die leeren Boote zur libyschen Küste zurückgeschleppt.

Die italienische Justiz hat zwei Vorfälle notiert, darunter eben jenen vom 18. Juni. Videoaufnahmen von Reuters-Journalisten dienen als Beweismaterial. Man sieht darauf, wie das Schlauchboot von Jugend rettet den blauen Holzkahn nach links durchs Wasser zieht. Seitdem liegt die Juventa im Hafen von Trapani unweit von Siziliens Hauptstadt Palermo.

Nun aber hat die Gruppe Forensic Oceanography den Fall neu aufgerollt. Sie zeigt die Ergebnisse vom kommenden Wochenende an auf der Biennale Manifesta, die dieses Jahr in Palermo stattfindet. Forensic Oceanography ist ein Ableger von Forensic Architecture. Das Kollektiv, zu dem Architekten, Filmemacher, Journalisten, Künstler und Grafiker gehören, wurde von Eyal Weizman gegründet und erst vor wenigen Wochen für den prominenten Turner-Preis nominiert.

Ihre Arbeit zum NSU-Prozess war eines der am meisten diskutierten Werke auf der Documenta

In Deutschland kennt man Forensic Architecture spätestens, seit sie kurz vor der Documenta 14 in Kassel einen Bericht vorstellten, der zu dem Schluss kam, dass einer der NSU-Morde, der Anschlag auf Halit Yozgat im Norden von Kassel, mit hoher Wahrscheinlichkeit im Beisein eines Verfassungsschützers stattgefunden hatte. Auf der Documenta präsentierten die Forscher um Weizman dann die Videoinstallation "77sqm_9:26min", mit der sie den Hergang des Anschlags minutiös rekonstruierten. Die Arbeit war eines der am meisten diskutierten Kunstwerke der Documenta.

Für Lorenzo Pezzani, einen der Gründer des Kollektivs, bot der Fall der Juventa, die der deutschen Organisation Jugend rettet gehört, eine ideale Ausgangssituation: "Wir suchen Fälle, die emblematisch sind für das, was politisch oder juristisch geschieht", sagt der studierte Architekt. Er hatte sich am Londoner Goldsmiths College als Doktorand bei Eyal Weizman eingeschrieben, "unzufrieden mit Architektur als Disziplin", weil er etwas tun wollte, das mehr Relevanz hat für die "Welt, in der wir leben".

Das war 2011, als erstmals die Folgen der Aufstände des Arabischen Frühlings auf dem Mittelmeer sichtbar wurden. Während sich die Gewässer zwischen Italien, Griechenland und Nordafrika in der Zeit des Nato-Einsatzes gegen Libyen in eine der am besten überwachten Regionen der Erde verwandelten, stachen an Nordafrikas Küsten die ersten Flüchtlingsboote in See. Es galt als das bis dahin tödlichste Jahr, mehr als 1500 Migranten starben.

"Diese Krise war nicht unsichtbar", sagt Pezzani, der zusammen mit dem Filmemacher Charles Heller bald nach Italien aufbrach und Kontakt aufnahm zu Rettern, Helfern, Politikern - vor allem auch zu Flüchtlingen. Er baute für Forensic Oceanography Kontakte auf zu investigativ arbeitenden Journalisten und Politikern wie der Niederländerin Tineke Strik, die Informationen auch bei offiziellen Stellen, Behörden, Grenzschützern und Armeen einholte. Die Ergebnisse ihrer Ermittlungen veröffentlichten sie im Internet und zeigten sie auf Ausstellungen.

Unter dem Titel "The Left-to-Die Boat" rekonstruierte das Kollektiv, welche Frachter, Helikopter, Flugzeuge und Überwachungsstellen im März 2011 die Not auf einem Schiff bemerkten und ignorierten, auf dem 72 Flüchtlinge tagelang im Mittelmeer trieben, ohne dass ihnen geholfen wurde; nur elf Menschen überlebten die Reise.

Die Recherchen zum juristischen Streit des schon genannten Rettungsschiffs Seawatch bereitete Forensic Oceanography unter dem Titel "Mare Clausum. The Sea Watch vs Libyan Coast Guard Case" auf.

Die Animationen, die Forensic Oceanography veröffentlicht, sind mehr als die unzähligen künstlerischen Dokumentationen, die in der Kunst derzeit so erfolgreich sind. Denn sie stellen Beziehungen her zwischen politischen Ansagen, Programmen wie "Mare Nostrum" und den Zahlen der Ertrunkenen beispielsweise.

Werke wie "Blaming The Rescuers. The Juventa Case", das in Palermo erstmals als Installation präsentiert wird, schaffen zudem eine verwirrende Nähe, in der die Fakten sich zu aufmerksam erzählter Geschichte verdichten. Die wenigen Filmminuten des Reuters-Teams, die von der italienischen Justiz vorgeführt wurden wie Beweise, erscheinen nun eingebettet in andere Aufnahmen - beispielsweise von Kameras an den Helmen der Retter - und abgeglichen mit Notizen aus Logbüchern, mit meteorologischen Aufzeichnungen und den Aussagen von Zeugen, mit Motion-Tracking und Satellitenaufnahmen.

In der Animation klappt das Filmbild, das zeigt, wie die Retter das Flüchtlingsboot abschleppen, plötzlich auf und verwandelt sich in eine dreidimensionale Simulation. Sichtbar werden auch andere Schiffe, die Windrichtung, die Strömung, die Wellen. Die Fahrtrichtung des Schlauchboots zeichnet sich als Diagonale ab, die eindeutig in Richtung Norden - also nach Italien - zielt. Damit ist die Behauptung, die Besatzung der Juventa arbeite mit libyschen Schleppern zusammen, entkräftet.

Die Erkenntnisse dieser Simulation wurden schon Anfang des Monats in Rom bei einer Pressekonferenz vorgestellt, die Animation ist im Internet zugänglich. Denn bislang gibt es keinen Prozess, kein Verfahren gegen Jugend rettet; um die Juventa zu beschlagnahmen, wurden andere Paragrafen bemüht. Es ist nun an Forensic Oceanography, jenseits der Gerichtssäle, jenseits der Fernsehbilder eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Denn die Vorverurteilung in den Medien hat der auf Spenden angewiesenen Organisation Jugend rettet geschadet, auch ohne Prozess oder Urteil.

Dass die Installation "Juventa Case" nun in Palermo gezeigt wird, nur wenige Kilometer von Trapani entfernt, ist sicher eine besondere Pointe. Doch wenn man Lorenzo Pezzani fragt, ob sein Projekt nun ein Kunstwerk ist, bleibt er vieldeutig. Dass man sein Werk als eine Art zeitgenössisches Pendant zum Historienbild versteht, kann er sich nur vorstellen, wenn sich daraus Folgen ergeben, die über die Sphäre der Kunst hinausreichen. Wenn "77sqm_9:26min" oder "Blaming The Rescuers" von der Kunstgeschichte anerkannt und als zeitgenössische Versionen von Schlachtengemälden gesammelt werden, sind dann die Museen dafür verantwortlich, die begonnenen Projekte fortzusetzen?

Die Sphäre der zeitgenössischen Kunst ist mehr als eine weitere Öffentlichkeit für die Forensic Architecture. Die Frage, ob solche Werke als Kunst gelten können, hat sich schon lange umgedreht: Die Werke von Forensic Architecture und Forensic Oceanography fordern die bildende Kunst mit ihrem Anspruch auf museale Ewigkeit heraus.

Als die NSU-Recherche noch einmal für eine Ausstellung am Londoner ICA aufbereitet wurde, gestaltete Forensic Architecture ein viele Meter breites Diagramm, dessen Zeitstrahl weit über den Abschluss der eigentlichen Recherchen hinausreichte und auch verzeichnete, wann sich bundesdeutsche Parteien oder Gerichte mit den Ergebnissen beschäftigten. Die Installation zur Juventa wird gerade aufgebaut, der Fall, so viel ist klar, ist noch lange nicht abgeschlossen.

© SZ vom 13.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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