Migration:Europa abdichten

Lesezeit: 3 min

Christian Jakob und Simone Schlindwein zeigen, wie die EU in Afrika Fluchtursachen "bekämpft".

Von Günter Beyer

Im Frühjahr 2015 kentert ein Boot mit Flüchtlingen auf dem Kurs von Libyen nach Italien. 500 Menschen ertrinken, nur 28 werden gerettet. "Das wird immer weitergehen, es wird nicht aufhören", kommentierte wenige Tage später Bundeskanzlerin Angela Merkel die Katastrophe. Merkels Forderung: ein Gipfel mit Afrika. "Dort kommen die Flüchtlinge schließlich her. Also ist Afrika auch der Schlüssel, sie zu stoppen", erläutern die Journalisten Christian Jakob und Simone Schlindwein die Initialzündung für einen "neuen Umgang mit Afrika".

Die neue deutsche Afrika-Politik ist Folge der massenhaften Zuwanderung von Migranten und greift tief in die bisherigen Beziehungen mit etlichen afrikanischen Ländern ein. Die Grundidee, die auch in der Europäischen Union Anhänger hat: Europa muss die Afrikaner zum Zuhausebleiben animieren. "Jeder, der gar nicht erst ankommt, muss nicht teuer wieder abgeschoben werden", skizzieren Jakob und Schlindwein in ihrem Buch "Diktatoren als Türsteher Europas" die offizielle Logik. Der "neue Umgang mit Afrika" hat danach zwei Stufen. Erstens sollen Ausreisewillige durch verstärkte Kontrollen schon an innerafrikanischen Grenzen möglichst zurückgehalten werden. Dazu schlägt die EU ein ganzes Arsenal technischer Hilfsmittel vor wie biometrische Pässe, vernetzte Computer und unüberwindbare Zäune. Und die EU kann auch liefern - von Pässen aus der deutschen Bundesdruckerei über Nachtsichtgeräte bis zu Patrouillenbooten. Zweitens will Europa wirtschaftliche Ansätze fördern, Jobs, die Migranten zum Dableiben animieren. "Entwicklungshilfe" firmiert jetzt unter neuem Etikett als "Bekämpfung von Fluchtursachen". Die Autoren diskutieren nicht, weshalb das funktionieren soll, nachdem Entwicklungshilfe jahrzehntelang kaum etwas bewirkt hat. Phase zwei setzt Phase eins voraus: Ohne mehr "Sicherheit" wird es kaum private Investitionen geben.

Gute Beziehungen zu Machthabern auf dem Kontinent werden teuer erkauft

Fünf afrikanische Länder sind als "Hauptpartner" im europäischen Fokus: Mali, Nigeria, Niger, Senegal und Äthiopien. Keines dieser Länder grenzt ans Mittelmeer, aber ein Blick auf die wichtigsten Migrationsrouten zeigt: Hier sind die Drehkreuze von Flucht und Auswanderung. Der arme Staat Niger beispielsweise wird zum Vorreiter der Biometrisierung des Passwesens gemacht. Seit 2016 postiert die nigrische Armee Kräfte an der Route nach Libyen, die EU verspricht Lastwagen und Kommunikationstechnik.

Als Folge des "neuen Umgangs mit Afrika" werden auch von Diktatoren regierte Staaten wie das "Haupttransitland" Sudan sowie Eritrea in das Netz der Migrationsabwehr einbezogen. Der Sudan wird von Omar al-Baschir, einem per internationalem Haftbefehl gesuchten Gewaltherrscher, regiert. Brüssel braucht jetzt die einst zu Recht international isolierten Staaten und macht sie wieder hoffähig. Die EU-Kommission spendiert dem Land Entwicklungshilfemittel und Ausbildung für sudanesische Polizisten.

Unter seinem Diktator Isayas Afewerki gilt Eritrea weltweit als einer der größten Flüchtlingsproduzenten. 5000 meist junge Menschen fliehen jeden Monat aus Afewerkis Reich. Hauptursache dafür ist der verhasste "National Service", in dem viele Eritreer oft Jahre lang Fronarbeit verrichten müssen. Mit seiner Reise nach Eritrea beendete Noch-Bundesentwicklungsminister Gerd Müller 2015 die internationale Isolation. Versprochen wurde Hilfen bei der Verbesserung der "Lebenssituation vor Ort" und Rückkehrperspektiven. 200 Millionen Euro gibt es aus dem "Europäischen Entwicklungsfonds". Mit dem Mittelmeer-Anrainer Libyen, von wo viele Migranten nach Europa aufbrechen, hatte es 2010 noch ein Abkommen mit der EU gegeben. Danach sollte Diktator Gaddafi 50 Millionen Euro bekommen, wenn er Libyens Grenzen weiter abdichtete. Nach dem staatlichen Zerfall Libyens sind Abkommen freilich illusionär.

Zwar konzentrieren sich Jakob und Schlindwein auf Afrika, aber wie kein anderes Abkommen hat die Übereinkunft mit dem "Türsteher" Recep Tayyip Erdoğan Europas Abschottungspolitik geprägt. Die Türkei verpflichtete sich 2016 bei Zahlung von zwei Milliarden Euro jährlich zur Aufnahme von zwei Millionen Flüchtlingen. Das Land soll Migranten von der EU fernhalten, vor allem die Bootspassage nach Griechenland stoppen. Die Türkei hält sich bis heute an ihre Verpflichtungen.

Gute Beziehungen zu Afrikas Herrschern zu erkaufen ist Jakob und Schlindwein zufolge aber noch aus anderem Grund wichtig. Bisher gelingt es kaum, Immigranten, deren Asylantrag in Deutschland abgelehnt wird, in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Aus Deutschland wird nur ein Viertel der ausreisepflichtigen Nigerianer tatsächlich zurückgeschickt, bei den Maliern sind es nicht einmal fünf Prozent. Italien sandte nur 165 von 38 000 Nigerianern zurück. Oft lehnen bei Abschiebungen die Botschaften der Herkunftsländer jede Kooperation mit EU-Staaten ab. Denn für viele afrikanische Staaten ist es von Vorteil, wenn Staatsbürger im Ausland leben. Weltweit überweisen Migranten 117 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung an ihre Angehörigen, aus europäischen Entwicklungstöpfen kommen nur magere drei Dollar.

Für den "neuen Umgang mit Afrika" ist es deshalb entscheidend, Länder vertraglich zu binden, abgeschobene Staatsbürger wieder aufzunehmen. "Wer nicht kooperiert, der wird sanktioniert", erklärte Noch-Bundesjustizminister Heiko Maas. So nimmt Ägypten zwar abgeschobene Landsleute zurück, schiebt aber seinerseits Nicht-Ägypter rigoros ab. Dem Land werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.

Die Darstellung von Christian Jakob und Simone Schlindwein ist sorgfältig, entwaffnend faktenreich und so aktuell, dass Entwicklungen bis zum Sommer 2017 berücksichtigt werden. Die beiden zitieren aus seriösen Medien, offiziellen Quellen und aus Interviews, die sie selber geführt haben. Kleine Reportage-Elemente unterbrechen anschaulich die Fakten-Lawine. Allerdings wird nicht immer klar, ob die deutschen Positionen auch immer die der EU-Kommission sind; letztere bleibt ziemlich gesichtslos. Bekanntlich ist der Umgang mit Migranten innerhalb der EU höchst umstritten. Auf die Diskussion, ob Migranten aus politischen Gründen ihr Herkunftsland verlassen mussten oder ob sie schlicht ein besseres Leben anderswo im Auge haben, lassen sich die Buchautoren nicht ein. Migration sei für viele Afrikaner altvertraute Gewohnheit: "In Afrika ist Migration ein Entwicklungsmotor.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: