Migration:Der andere Blick auf die Neuen von 2015

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Michael Richter: Neue Heimat Deutschland. Zuwanderung als Erfolgsgeschichte. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2016. 232 Seiten, 16 Euro. (Foto: verlag)

Michael Richter feiert die Flüchtlinge als Bereicherung für Deutschland. Und diese Betrachtungsweise hat ausnahmsweise einmal gar nichts mit Gutmenschentum zu tun.

Von Cord Aschenbrenner

Das hat gerade noch gefehlt: eine Art Lob des Flüchtlings. Die blauäugigen Beobachtungen eines journalistischen Gutmenschen zur Flüchtlingskrise - ein Wort übrigens, das Michael Richter geradezu fahrlässig vermeidet. . . So ungefähr könnte der Rezensent beginnen, gehörte er zu denen, die das Land seit einem Jahr im "Flüchtlingschaos" sehen.

Auch das Wort Chaos kommt in Richters Buch nur einmal als Zitat vor, im Zusammenhang mit den Hunderttausenden unbearbeiteten Asylanträgen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Ansonsten beschreibt der mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Fernsehjournalist nicht nur die vergangenen 14 Monate mit dem Grenzübertritt von 890 000 Menschen, so die neueste Zahl, als "Erfolgsgeschichte". Er betont, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist und hält, auch nachdem die Kanzlerin ihr "Wir schaffen das" im September mehr oder weniger relativiert hat, optimistisch eben daran fest. Sogar das Wort "Bereicherung" verwendet Richter: für seine Begegnungen mit den Flüchtlingen, die er gesprochen und begleitet hat.

Man kann Richters Buch aus zwei Perspektiven lesen: Aus der Perspektive derjenigen, die seit dem Herbst 2015 in stetem Missmut "Flüchtlingskrise" und "Obergrenze", "Notstand" und "Überrollung", gar "Herrschaft des Unrechts" rufen und schreiben, jene also, die die staatliche Ordnung der Bundesrepublik durch Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan und Eritrea bedroht, ja bereits unterminiert sehen (oder wider besseres Wissen sehen wollen). Es sind jene, die von Anfang an alles besser wussten. Sie werden dieses Buch nicht gerne lesen und sich bestätigt fühlen in ihrer Auffassung vom naiven "Gutmenschentum" derer, die durch ihre Hilfe für die Neuankömmlinge noch mehr von ihnen ins Land locken. Vielleicht geraten sie aber auch ins Nachdenken.

Denn es ist überhaupt nichts Blauäugiges an Richters Buch. Vielmehr nimmt er überzeugend die Gegenperspektive ein; man kann sie eine der Zukunft zugewandte Sichtweise nennen. Der Autor verschweigt nicht, dass die Ankunft und Integration so vieler Menschen in einer hochkomplexen Industriegesellschaft wie der deutschen nicht ohne weiteres zu haben ist; dass die "Willkommenskultur" der ersten Wochen vielerorts bröckelte; dass "bittere Töne" zu hören waren. Er sagt aber auch, dass diese Menschen die Zukunft sind, der sich das Land besser früher als später stellen sollte. Richter betont zunächst, dass fast 32 Millionen Menschen, in einer Mischung aus Empathie, Nächstenliebe und Pragmatismus den oft schwer traumatisierten Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten geholfen haben, indem sie Sachen oder Geld spendeten; mehr als vier Millionen Menschen haben sich persönlich um die Ankömmlinge gekümmert.

Das war im Herbst und Winter 2015. Etwa 600 000 dieser Menschen, schätzt Richter, werden in Deutschland bleiben, durch das EU-Türkei-Abkommen und die Schließung der "Balkan-Route" werden ihnen in diesem Jahr wesentlich weniger Menschen, nämlich wohl nur 300 000 folgen. Darin eine "Überrollung" der 80 Millionen Deutschen zu erkennen, bleibt Böswilligen vorbehalten. Richter konstatiert nüchtern und sagt damit nichts Neues, dass die überwiegend jungen Flüchtlinge - ohne Sprachkenntnisse, mit unzureichender Ausbildung - natürlich nicht aus dem Stand die demografischen Probleme einer alternden Gesellschaft lösen können. Wenn die Fremden aber integriert werden in die deutsche Gesellschaft, wofür menschenwürdige Wohnungen, Bildung und Arbeit Voraussetzung sind, könnte das schwierige Jahr 2015 tatsächlich der Beginn einer Erfolgsgeschichte sein.

Richter hat, anders als Journalisten sonst oft, nach dem Gelingenden gesucht, nach dem, was klappt bei der "Herkulesaufgabe" Integration. Das ist legitim und hebt sein Buch vorteilhaft ab vom alarmistischen Krisengerede allerorten. Nicht von versagender staatlicher Ordnung ist hier die Rede, sondern von einer Ordnung, deren Vertreter unter der Herausforderung zwar erst schwankten wie ein angezählter Boxer, sich ihr aber zunehmend gewachsen zeigen. So wie Frank-Jürgen Weise, der Chef des Bamf, der sein Amt, ein Nadelöhr für den Asylantrag jedes Flüchtlings, gerade umstrukturiert, um die elend langen Wartezeiten bei den Anträgen in den Griff zu kriegen. Richter ist verhalten optimistisch, verhehlt aber nicht die enormen Schwierigkeiten der Institution und ihrer "Entscheider", die nach einer Minimalausbildung über das Schicksal jeweils Tausender Antragsteller ein treffendes Urteil abgeben sollen.

Michael Richter hat mit Flüchtlingen geredet, mit Bürgermeistern und Ehrenamtlichen, mit Architekten und Lehrerinnen, Leuten also, deren Ideen und Tatkraft besonders gefordert waren oder noch sind. Er war in Not- und "Folgeunterkünften", die sich, wenn auch nicht in den Stadtstaaten Hamburg und Berlin, rasch leeren. Er hat Stadtteile mit schon lange in Deutschland lebenden Ausländern besucht und hat gerade aus Afghanistan und Syrien geflohene Kinder kennen gelernt. "Wir", schreibt Richter am Ende "sind unverzichtbar für ihren Versuch, eine neue Heimat zu finden." Auch Erich Kästner würde passen: Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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