Medienrevolution:Im Auf und Ab der Formate

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Kodex, Cortex und die Geschäftsmodelle der "Open Access"-Welt: Klug verteidigt Michael Hagner das gedruckte Sachbuch aus der Autorenperspektive .

Von Lothar Müller

Ein nicht zuletzt für Zeitungsleser bedenkenswerter Satz ist der folgende: "Aus neurowissenschaftlicher Perspektive ist die Lesefähigkeit faszinierend, weil das Gehirn von der Evolution nicht für diese Tätigkeit gemacht wurde." Jetzt bitte nicht weiterblättern oder nach unten zu den Anzeigen schweifen, sondern die naheliegende Frage ins Auge fassen, wofür eigentlich die Areale, die im Gehirn für das Lesen unverzichtbar sind, gemacht waren, bevor vor ungefähr 6000 Jahren das Lesen begann. Spurenlesen? Womöglich, aber bestimmt nicht mit dieser Metapher.

Denn die gehört zu den Zeiten, als die Kulturtechnik des Lesens schon längst begonnen hatte, das Gehirn nachhaltig zu verändern. Das war nur möglich, weil das Gehirn plastisch ist, vielfältig veränderbar, und die Schriftrolle wie später der Kodex haben die Areale, in die sie sich einnisteten und in denen sie sich entfalteten, nicht unberührt gelassen: "denn zwar gab es vor der Erfindung der Schriftsprache die einzelnen Areale, nicht aber die über den Cortex verteilten Funktionsnetzwerke, die beim Lesen aktiviert werden."

Im neuen Buch des in Zürich lehrenden Mediziners und Wissenschaftshistorikers Michael Hagner findet sich der Abschnitt "Lesen ist eine Kulturtechnik" an ziemlich später Stelle, aber an einer strategischen Position. Denn das Verhältnis von Kodex und Cortex ist eines der Lebensthemen dieses Autors, der seit der Studie "Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn" (2000) immer wieder die Wissenschaftsgeschichte der Hirnforschung in Beziehung zur Kulturgeschichte der Wissensformen und ihrer Infrastrukturen gestellt hat. Hier aber spricht er nur am Rande über seine Forschungsgebiete, hier spricht er als Autor der Bücher, die aus seiner Forschung hervorgegangen sind, als Mitglied der "scientific community".

Er hat diesem Buch einen denkbar lapidaren Titel gegeben: "Zur Sache des Buches", aber es ist eine Streitschrift geworden. Sie handelt nicht vom Buch überhaupt, sondern von dem Buchtyp, mit dem der Titel spielt, vom geisteswissenschaftlichen Sachbuch der Art, wie Michael Hagner sie schreibt. Und, vor allem, weiterhin schreiben will, in dem Format, das ihm für seine Zwecke als das geeignetste erscheint: auf Papier gedruckt. Es ist das Format, dem er seine Reputation verdankt: "Die relevanten, neuartigen provozierenden oder einfach nur soliden Texte von der Länge eines Buches sind in den mir bekannten Wissensfeldern auf Papier erschienen und nicht auf persönlichen bzw. institutionellen Websites oder Repositorien."

Auch wer mit dem Rücken zur Literatur steht, entkommt den Bücherstapeln nicht. Michael Hagner mistet im Sachbuch-Sortiment aus. (Foto: imago/Gerhard Leber)

Hagner schreibt über das Dickicht der "Open Access"-Welt und deren Geschäftsmodelle

Eine Streitschrift ist das Buch geworden, weil dieses Format immer stärker durch die Vorstellung unter Legitimationsdruck gerät, die Fortentwicklung der wissenschaftlichen Kommunikation sei notwendig mit ihrer möglichst restlosen Verlagerung in digitale Infrastrukturen und Formate verbunden: "das gedruckte Buch ist ein Störfaktor bei der reibungslosen Durchsetzung des neuen digitalen Publikationsregimes."

Hagner verbindet sein Plädoyer für die Fortführung der Symbiose von Cortex und Kodex mit einer Musterung der Buchkritik seit der Frühen Neuzeit, blickt auf Nietzsches Unbehagen an den immer kleineren Eiern, die in immer dickeren Büchern gelegt werden, auf die Prophezeiungen vom Untergang des Buches von Theodor Lessing bis zu Herbert Marshall McLuhan, auf die aktuellen Visionen einer ständigen, umfassenden, frei zugänglichen und interaktiven Repräsentation des menschlichen Wissens im Netz. Dabei entsteht en passant ein Selbstporträt des Autors. Er profitiert von den immens gewachsenen Forschungsressourcen im Netz, er schätzt die Blogs seiner Kollegen, aber auch die von Literaten wie Wolfgang Herrndorf und Kathrin Passig, aber er erhebt überall dort Einspruch, wo seine Freiheit als Autor beschnitten wird, das Publikationsformat selbst zu bestimmen.

Kurz, Michael Hagner schreibt aus der Autorenperspektive. Daraus resultiert, wie in Valentin Groebners Bändchen "Wissenschaftssprache digital. Die Zukunft von gestern" (2014) die Skepsis gegenüber den aus der User-Perspektive formulierten Lobliedern auf das unablässige, barrierefreie Zirkulieren des Wissens in den neuen digitalen Formaten. Diese Skepsis mündet bei Hagner in einen gründlichen Streifzug durch die Welt des "Open Access".

Sein Reisegepäck ist schlicht, er hat Messinstrumente in Gestalt von Studien, Statistiken und Bilanzen dabei und hebt gegenüber den Idealen der nutzerzentrierten Offenheit und ungehinderten Zirkulation, die sich scheinbar zwanglos aus der aktuellen Medienrevolution ergeben, das Agieren und die Interessen der klassischen Akteure hervor: der großen Wissenschaftsverlage und des Staates. "Open Access" ist in diesem Buch ein Dickicht, in dem die Ausweitung von Zirkulation und Speicherung des Wissens in rabiat durchgesetzte Geschäftsmodelle, das "Data Mining" global agierender ökonomischer Interessen und das Regelwerk staatlicher Bürokratien übergeht.

Das Taschenbuch war ein ideales Medium der Entgrenzung von Wissen

Hagner vertritt die Sache des geisteswissenschaftlichen Buches, aber er ist Mediziner und nah an der Forschungspraxis der sciences. Das gibt seiner dichten Beschreibung ihren Detailreichtum und dem Buch eine Hauptlinie: das gedruckte geisteswissenschaftliche Buch eines einzelnen Autors als Medium eigenen Rechtes gegen das Schlüsselmedium der Naturwissenschaften abzusetzen, den häufig im Team erstellten, in einer führenden Zeitschrift publizierten Aufsatz.

Michael Hagner: Zur Sache des Buches. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 280 Seiten, 17,90 Euro. E-Book: 13,99 Euro. (Foto: verlag)

Es gibt für den Wissenschaftshistoriker Hagner keinen Mediendeterminismus. Aber das Auf und Ab von Formaten im Wechselspiel mit historischen und innerwissenschaftlichen Konstellationen. Das macht die Abschnitte zum "Goldenen Zeitalter" des Sachbuchs in den USA und in Frankreich lesenswert, vor allem aber die Passagen zur Symbiose von Sachbuch und Taschenbuch in Deutschland seit den Fünfzigerjahren, seit S. Fischers "Büchern des Wissens" und Rowohlts Enzyklopädie. Was Theodor W. Adorno und der frühe Enzensberger als Ausverkauf des Wissens beargwöhnten, erwies sich als ideales Medium der Entgrenzung des Wissens und Brandbeschleuniger der Politisierung schon vor 1968.

Weil die Medientechnologien in diesem Buch keine Generalursache sind, treten die aus den Wissenschaften selbst entspringenden Probleme hervor, für Deutschland vor allem: die Inflation des Sammelbandes, des "Packesels der Überforschung", auf Kosten der Monografie, das Publizieren nach Maßgabe der einander jagenden Projekte und Forschungscluster. Die Kritik am überhastet Publizierten ist Teil dieses Plädoyers für das gedruckte Buch. Nicht jede Monografie ist ein edles Rennpferd, aber wenn sie es ist, dann deshalb, weil sie ihr Format verstanden hat, in ihm eingewohnt ist.

Und der Leser? Er honoriert dieses Verstehen durch seine Verweildauer.

© SZ vom 02.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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