Matera, Kulturhauptstadt 2019:Dem Nichts eine Stadt abgewinnen

Lesezeit: 6 min

Man kennt die archaisch wirkenden Felsenwohnungen aus Bibelfilmen. 2019 soll Matera nun Europas Kulturhauptstadt werden.

Von Thomas Steinfeld

Wenn die Glocken in Matera die Stunde schlagen, läuten sie nicht. Sie geben ein eiliges Scheppern von sich, fast so, als wäre das ganze Jahr Karfreitag. Von der Kathedrale rappelt es, von der Kirche, die Johannes dem Täufer gewidmet ist, rappelt es, von der Felsenkirche San Pietro Barisano rappelt es noch einmal. Eher, als dass die Töne sich frei in den Himmel hinaufschwängen, scheinen sie von der Felskante, die den alten, armen Teil der Stadt von den neueren Vierteln trennt, in das Tal hinunterzufallen, über Hunderte von weißgrauen ehemaligen Höhlenwohnungen hinweg in die tiefe Schlucht, wo im Frühjahr noch ein kleiner Bach fließt und halbwilde Hunde in der Sonne liegen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Gravina, einem verkarsteten Hang, weiden Schafe. Dahinter kündigt sich eine große Ödnis an. Hinter dem Betrachter steht eine moderne Stadt, und er weiß es. Aber was da vor ihm liegt, scheint nicht in die Gegenwart zu gehören und auch in keine andere Zeit.

Im Jahr 2019 wird Matera eine der beiden Kulturhauptstädte Europas sein (die andere ist Plovdiv in Bulgarien). Das ist schon lange nichts Besonderes mehr. Ein paar Dutzend Städte haben, seitdem Athen im Jahr 1985 die erste Kulturhauptstadt war, diese Ehre empfangen, mit ähnlichen Ergebnissen, zu denen eine stets problematische Restaurierung der Altstadt, ein paar Freiluftkonzerte und jede Menge Event-Management gehören. Danach ist das Ereignis bald vergessen. Für Matera indessen scheint die Kür von existentieller Bedeutung zu sein - nicht nur, weil sich die kleine Stadt in der Basilicata, im äußersten Süden, auf dem Absatz des Stiefels gelegen, gegen Wettbewerber wie Siena und Urbino durchsetzte: Schon jetzt ist das ganze Gemeinwesen auf diesen Termin ausgerichtet, als wäre damit eine Verheißung von nicht mehr irdischen Ausmaßen verbunden. Es scheint sich mit der Bewerbung ein Anspruch zu verbinden, der, würde man ihn denn ernst nehmen, das Dasein dieser Stadt - und nicht nur dieser - auf eine veränderte Grundlage stellte: "Cittadinanza" heißt das wichtigste Wort der Kampagne, "Bürgerschaft".

In den Fünfzigern wurden die Bewohner der Wohnhöhlen umgesiedelt - zwangsweise

Der italienische Maler, Schriftsteller und Arzt Carlo Levi verbrachte Mitte der Dreißiger ein Jahr der politischen Verbannung in der Basilicata. In seinem Buch "Christus kam nur bis Eboli" (1945), dem romanhaften Bericht, der aus diesem erzwungenen Aufenthalt hervorging, ist auch von den Höhlen Materas die Rede. Die Schwester des Erzählers musste, um ihren Bruder zu besuchen, den Weg über diesen Ort nehmen: "In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im Allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen, Männer, Frauen, Kinder und Tiere. So leben zwanzigtausend Menschen . . . Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt." In zwei großen Bogen ziehen sich diese in den Kalkstein gegrabenen Wohnhöhlen an der einen Seite der Schlucht entlang, sie wirken eher gewachsen als gebaut, manche besitzen Fassaden, andere sind nur Löcher, und alle sind mit Gassen, Stiegen und Treppen wie durch ein Knochengerüst verbunden. Zusammen bilden sie die "Sassi", die "Steine" - eine Stadt, die so aussieht, wie sich Levis Schwester in der Schule die Hölle Dantes vorgestellt hatte.

In den Fünfzigern wurden die "Sassi" geräumt, zwangsweise, und ihre Bewohner in Neubauten umgesiedelt, mit amerikanischem Geld und nach Plänen der "Tennessee Valley Authority". Eine nationale "Schande" waren die Höhlenwohnungen plötzlich geworden, nicht zuletzt unter dem Eindruck jenes Buches (das im Jahr 1979 verfilmt wurde), worauf der größte Teil der Anlage abgesperrt und sich selbst überlassen wurde. Übriggeblieben ist von diesem Elend das Pittoreske der Bauten, von denen einige wieder als (nunmehr komfortable und hygienische) Wohnungen hergerichtet sind, die meisten aber als Hotels, Restaurants, Andenken- und Weinläden sowie private Museen ("so lebte man in den Sassi") verwendet werden - während etwa ein Drittel der "Sassi" noch immer hinter Zäunen verborgen und von Stechpflanzen überwuchert daliegt. Im Unterschied zu den meisten anderen historischen Stadtkernen in Europa wurden die "Sassi" nicht durch wechselnde Nutzung, Immobilienspekulation und Gentrifizierung umgeformt (in anderen Teilen Italiens, in Brescia zum Beispiel, war vor allem im Faschismus abgerissen und neu gebaut worden): Sie wurden aufgegeben, aus hygienischen und sozialen Gründen, sie lagen brach, schienen keinen geldwerten Nutzen mehr zu besitzen und kehren nun als Hoffnung auf eine touristische Destination wieder, nachts erleuchtet von gelben Lampen, die der Anlage den Anschein einer gigantischen Weihnachtskrippe verleihen. In der Stille der Nacht hört man darin große Hunde bellen.

Karg sind die "Murge", die Landschaften um Matera, und so arm, dass es hier noch im späten 19. Jahrhundert Briganten gab - Räuber, die keinen Grund hatten, sich von der italienischen Einheit und der Herrschaft des Nordens einen Vorteil zu erwarten, und eher den Bourbonen treu bleiben wollten. Zu jener Zeit aber war dieser Teil Italiens schon bedeutungslos geworden, beiseite geschwemmt in den Strömen der Menschen und Waren, die durch das Mittelmeer zogen - kein Ziel mehr, nicht einmal mehr eine Etappe für Eroberer. Seit neuntausend Jahren ist Matera besiedelt, so lange wie Aleppo oder Byblos. In den "Sassi" lässt sich eine Archäologie betreiben, die über die Renaissance und das Mittelalter bis in vorantike Zeiten zurückreicht, und jede Völkerschaft hinterließ ihre Spuren, die Griechen, die Normannen, die Sarazenen und die Lukaner, einst die Einheimischen dieser Gegend, bis zu ihrer Romanisierung. Jetzt gelangen, seitdem kein Weg mehr über den Balkan führt, allenfalls noch Flüchtlinge aus dem Nahen Osten an die Küsten Apuliens, von denen manche im Hinterland verschwinden. Der "Cittadinanza" soll die Kulturhauptstadt gewidmet sein, weil die Veranstalter eine Geschichte der Mühsal und des Gemeinsinns erzählen wollen: davon, wie hier über eine gefühlte Ewigkeit hinweg versucht wurde, dem Nichts (als das es sich heute darstellt) eine Stadt abzugewinnen.

Der Tiefe der Geschichte aber entspricht nur eine blasse Gegenwart. Wenn, wie Carlo Levi schreibt, die Jahrhunderte über das herbe, trostlose Land gingen, ohne das Gesicht der Armut auch nur zu berühren, so hat sich seitdem zwar einiges geändert: Matera teilt sich eine Universität mit der hundert Kilometer entfernten Stadt Potenza, und einige der größten Sofafabriken des Landes sind hier seit dreißig Jahren zu Hause (es geht ihnen allerdings nicht gut, im achten Jahr der Finanzkrise). Aber nichts davon ist dazu angetan, dem Anblick der "Sassi" die Wucht zu nehmen. Diese kommt nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch aus der Zukunft: Einst, wenn der Mensch die Erde verlassen haben wird, werden viele seiner ehemaligen Behausungen den Höhlen von Matera gleichen. Und wenn die "Sassi" einer großen Zahl von Filmen die Kulisse lieferten und noch liefern - von Pasolinis "Das 1. Evangelium - Matthäus" (1964) über Mel Gibsons "Die Passion Christi" (2004) bis zu Timur Bekmambetows Neuverfilmung von "Ben Hur" (2016) -, so geschieht das nicht nur, weil sich in den Ruinen so vortrefflich Jerusalem um das Jahr 30 nach Christus spielen lässt, sondern auch, weil sich in ihnen das Ende aller Zeiten anzukündigen scheint.

Als Zielort eines globalen Kulturtourismus wird die Stadt aufs Archaische verpflichtet

Im Mittelpunkt des Kulturhauptstadtjahres wird ein "demo-ethno-anthropologisches" Projekt stehen, dessen Kern schon heute zu besichtigen ist und das bald die gesamte Region beschäftigen soll: in Gestalt eines heimatkundlichen Museums, das Matera als eine Geschichte der Arbeit, der Kultivierung und der Zivilisation erzählt, überall und an einem zentralen Ort in den "Sassi". Dieser Erzählung entspricht die Sammlung von Gemälden Carlo Levis, die in Matera im Palazzo Lanfranchi ausgestellt sind, dem Nationalmuseum der Provinz Basilicata. Sie zeigen die Bauern, die er während seiner Verbannung porträtierte, lauter verhärmte, alte Gesichter - alt in dem Sinne, dass sie schon vor Jahrtausenden so hätten aussehen können. Den Gemälden sind fotografische Porträts der Abgebildeten beigesellt, wie zum Beweis dafür, dass die Menschen tatsächlich so aussahen, wie sie festgehalten sind. Das heimatkundliche Museum wie die Galerie mit den Bildern Carlo Levis bergen einen Widerspruch, und dieser ist das Problem, das Matera in den kommenden drei Jahren lösen muss: Um sich als Zielort eines globalen Kulturtourismus zu behaupten, wird die Stadt auf das Archaische verpflichtet. Und je eifriger sie dieser Verpflichtung nachkommt, desto mehr verwandelt sich das Altertümliche und Überlebte in ein Bild, dargeboten dem flüchtigen Blick derer, die mit ihren Rollkoffern vorbeiziehen (und die das Kulturmanagement der Stadt in "Bürger auf Zeit" umtaufte).

In der Idee von der "Cittadinanza" liegt der Anspruch, dass es anders sein möge - dass man erkenne, dass Arbeit (und die Geschichte der Arbeit) zur Teilhabe an einer bürgerlichen Gemeinschaft qualifiziert. Aus dieser Idee spricht die Hoffnung nicht nur Materas, sondern des italienischen Südens überhaupt, und zwar gegen die eigene Nation, die den Norden favorisiert, weil offenbar nur dort eine international konkurrenzfähige Industrie betrieben werden kann, wie gegen ein Europa, dem angesichts der Verlorenheit dieser Landschaft jetzt immer häufiger der Vergleich mit Griechenland einfällt. Es ist wohl so, dass man mittlerweile auch an den Kulturhauptstädten ablesen kann, wie es um die Europäische Union steht.

© SZ vom 02.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: