Mario Adorf :Der heldische Augenblick

Lesezeit: 4 min

Der Schauspieler erinnert sich hier an Günter Grass - an die Verfilmung der "Blechtrommel" und den "Skandal" um die Zugehörigkeit zur Waffen-SS.

Von Mario Adorf

Ich kann nicht sagen, dass Günter Grass und ich befreundet waren, dazu sahen wir uns in den Jahrzehnten seit der "Blechtrommel"-Verfilmung zu selten, aber man kann es einen freundschaftlichen Umgang miteinander nennen, bestimmt von meiner Bewunderung für ihn und sein Werk und seiner Sympathie für mich und meine Arbeit. Es kam immer wieder zu kurzen Begegnungen und in den letzten Jahren zu gemeinsamen Lesungen. Zuletzt las ich am 19. Oktober 2014 anlässlich seines 87. Geburtstags im Lübecker Theater jenes Kapitel aus dem Buch "Beim Häuten der Zwiebel" über sein Kriegsende. Kurz danach, am 2. November, traf ich ihn bei ihm zu Hause zum letzten Mal. Wir hatten noch Pläne für ein gemeinsames Hörbuch. Sein dann doch sehr plötzlicher Tod löste große Betroffenheit und Trauer bei mir aus.

Mein Alfred Mazerath war die erste Hauptrolle, die feststand

Dass die "Blechtrommel" das bedeutendste deutsche literarische Werk der Nachkriegszeit war und bis heute geblieben ist, braucht nicht gesagt zu werden. Dass der Roman mit seiner Verfilmung durch Volker Schlöndorff einen ganz entscheidenden Einfluss auf meine Karriere hatte, darf ich hier einmal deutlich feststellen. Durch die Goldene Palme in Cannes und den Oscar in Hollywood 1980 fand auch der Film weltweite Anerkennung.

Ich hatte mit Schlöndorff 1975 in der Verfilmung von Heinrich Bölls Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" zusammengearbeitet und konnte daher die Vorbereitungen für die "Blechtrommel"-Verfilmung verfolgen, die im Jahr darauf begannen. Zu meiner persönlichen Beteiligung darf ich sagen, dass ich für die Rolle des Alfred Matzerath wohl als erster Darsteller für die Hauptrollen feststand. Am ersten Drehtag versammelte Schlöndorff die ganze Mannschaft der Darstellerinnen und Darsteller um sich und hielt eine bemerkenswerte Rede. Er sagte, dass er einen Hauptdarsteller, den kleinen David Bennent, habe, dem er seine ganze Aufmerksamkeit und besondere Hinwendung zuteilwerden lasse. Er habe uns, die übrigen Darsteller, in dem Bewusstsein ausgewählt, dass wir erfahrene Schauspieler seien, die ihre Rollen auch ohne seine besondere Hilfe zu spielen wüssten und dass wir sie gut spielen müssten, sonst - und das klang wirklich wie eine Drohung - wären wir nicht im Film. Diese Ankündigung konnte zwar als Kränkung empfunden werden, war aber auch ein höchst wirksamer Ansporn für alle, ihr Bestes zu geben.

David Bennent, der Darsteller des Oskar in der "Blechtrommel", zwischen Mario Adorf, der den Alfred Matzerath spielte, und Günther Grass, 1979 in Berlin. (Foto: Konrad Giehr/dpa)

Es waren unvergessliche Momente, wenn Günter Grass am Drehort auftauchte. Zuerst war Schlöndorff durch dessen Anwesenheit am Set verunsichert. Würde der Autor in die Regie eingreifen wollen?

Aber Grass beschränkte sich auf ganz wenige, aber äußerst fruchtbare Hinweise. Er meinte, dass die Personen seines Romans in ihrer Kleinbürgerlichkeit selten sympathisch und außerordentlich seien, dass aber jede Figur in ihrer entscheidenden Szene einen positiven und sogar heldischen Augenblick habe. Für den Darsteller des Jan Bronski, den hervorragenden polnischen Schauspieler Daniel Olbrychski, sei es der Augenblick, wenn er vor seiner Erschießung mit einem letzten Blick seiner Geliebten Agnes die Spielkarte zeige, die Herzdame. Das wurde einer der ergreifendsten Momente im ganzen Film.

Für die Darstellung des Alfred Matzerath sagte er mir, dass es sich bei der Sex-Szene auf dem Küchensofa mit Maria, der wunderbaren Katharina Thalbach, um Gottes willen um keine Liebesszene handeln dürfe, sondern um eine fast "vergewaltigende Rammelei"! Der heldische Moment für Matzerath hingegen sei der, wenn sich der Hahnrei und Mitläufer den SS-Schergen, die Oskar in ein "Heim" stecken wollen, todesverachtend entgegenstellt: "Ich bin der Vater von dem Kind, und es kommt mir nicht in diese Anstalt!" Die Szene wurde zwar gedreht, aber zu meinem Kummer fand sie im fertigen Film keine Verwendung. Erst im Director's Cut, der nach Grass' Tod auch im Fernsehen lief, war diese wichtige Szene wieder drin.

In seinem Erinnerungsbuch "Beim Häuten der Zwiebel" beschreibt Grass seine Angst und die Rettung durch einen erfahrenen Unteroffizier. Ich verdanke die meine ebenfalls einem alten Unteroffizier, der mich davor bewahrte, an meinem letzten Kriegstag von zwei Panzerfäusten Gebrauch zu machen.

Auch Grass' Meldung zur Waffen-SS weist eine Ähnlichkeit mit meiner Freiwilligenmeldung auf. Diese Gemeinsamkeiten haben mich 2006 beim "Skandal" wegen Grass' später Beichte seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS besonders verständnisvoll gemacht. Ich hatte zwar keine Erklärung für Grass' langes Schweigen darüber, aber als diese Geschichte zum großen Skandal hochkochte und ich einen Anruf eines Reporters der Bild-Zeitung mit der Bitte um eine Stellungnahme eines fast Gleichaltrigen, der Ähnliches wie Grass erlebt hatte, erhielt, endete diese mit dem Satz: "Auch über diese Sache wird Grass wachsen." Bild hat dieses Statement meines Wissens damals nicht gedruckt, aber der Satz gilt nach wie vor.

Mario Adorf am Sonntag in Lübeck bei der Trauerfeier für Günter Grass. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Ich empfand die Art, wie Günter Grass nach seiner späten Beichte, als kaum 17-Jähriger freiwillig in die Waffen-SS eingetreten zu sein, beschimpft und beleidigt wurde, nicht bloß als unangemessen, sondern als zeitfremd. Ich habe diese Zeit selber noch mitgemacht, wenn auch nicht so intensiv wie die drei Jahre Älteren, wie Grass, Dieter Hildebrandt und andere. Aber auch ich wurde mit noch nicht mal 14 Jahren Kriegsfreiwilliger.

2006 wurde viel Unsinn gesagt und geschrieben, selbst von als kompetent geltenden Leuten. Wenn ein Mann wie Grass in einem politisch nicht eindeutig geprägten Haushalt in Danzig aufwächst - sein Vater soll ein Nazi gewesen sein -, dann ist das etwas völlig anderes als bei Joachim Fest oder Helmut Kohl, die in einem religiös oder politisch gefestigten Elternhaus groß wurden. Das ist ganz entscheidend. Man kann nicht sagen: Grass hätte wissen müssen, worauf er sich einlässt, wenn er zur SS geht. Das ist Unsinn. Für uns war damals die Waffen-SS noch keine Verbrecherbande, sondern immer noch eine Eliteeinheit.

Heute weiß man so etwas nicht mehr, aber alle Gymnasiasten wurden damals automatisch die "Führer" des Jungvolks oder der Hitlerjugend. Ich hätte schon immer gern von Helmut Kohl etwas dazu gehört, dass er, genauso wie ich ihm fast gleichaltrig, zu dieser Führergruppe gehört haben muss. Aber er hat sich nie öffentlich dazu geäußert. Es ist schwer vorstellbar, dass er sich hätte entziehen können, groß und sportlich, wie er war. Auch Helmut Kohl ein Verschweiger?

Mario Adorf , geboren 1930, ist in den Sechzigerjahren ein internationaler Star geworden, hat danach den jungen deutschen Film stark mitgeprägt, nicht zuletzt in der Verfilmung der "Blechtrommel" von Günter Grass.

© SZ vom 11.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: