Marina Lewycka: Das Leben kleben:Schräge Hochform

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Georgies Leben fällt auseinander, doch sie hat keine Kraft, es zu kleben. Da trifft es sich, dass sie eine dramatische alte Dame trifft, die noch viel mehr Hilfe braucht.

Cathrin Kahlweit

Großbritannien schreibt seit Jahren die schönsten Bestseller-Geschichten: Erst wird eine verarmte, alleinerziehende Mutter berühmt und reich, die ihre Geschichten über Zauberer und Zauberschüler aufschreibt. Dann stürmt eine schwarze Studentin die literarischen Hitlisten, die noch vor dem Abschluss an der Universität mit ihrer Multikulti-Geschichte aus London zum Weltstar avanciert. Und dann kommt - quasi aus dem Nichts - nach J. K. Rowling und Zadie Smith eine fast 60-Jährige daher, die an einer kleinen Universität in Sheffield Medienwissenschaften lehrt; überraschend wird ihr Erstling, der von der Geschichte des Traktors auf Ukrainisch handelt, in 33 Sprachen übersetzt.

"Das Leben kleben": der zweite Roman von Marina Lewycka stürmt die Bestsellerlisten in England. (Foto: Foto: dtv)

Eine Portion Selbstironie

Marina Lewycka, deren Eltern aus der Ukraine stammen, die selbst in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und in England aufgewachsen ist, betrachtet ihren Erfolg mit der ihr eigenen Selbstironie: "Seit fünf Jahren bin ich eine erfolgreiche Schriftstellerin. Aber ich vergesse nie, dass ich davor fünfzig Jahre lang nicht erfolgreich war. Das hilft, einen realistischen Blick auf die Dinge zu bewahren."

Nach der Betrachtung über Traktoren - die de facto eine so schräge wie anrührende Familiengeschichte über einen alten Mann und dessen Liebe zu einer atombusigen, jungen Ukrainerin sowie über das Entsetzen seiner Töchter war - sowie einer Groteske über Erdbeerpflücker in England hat Lewycka einen neuen Roman geschrieben. Schon wieder stürmt sie damit die Bestsellerlisten in ihrem Heimatland, und auch hier, wo We are all made of glue unter dem ziemlich banalen Titel Das Leben kleben erschienen ist, hat sie damit Erfolg.

Die Mutter einer erwachsenen Tochter, die mit ihrem Mann ziemlich unspektakulär in der ehemaligen Stahlarbeiterstadt Sheffield in Mittelengland lebt, liebt Humor und britisches Understatement. Und so schreibt sie über ihre Karriere: "Ich dachte, ich schreibe über die condition humaine, über das menschliche Leben, was damit endete, dass ich einen Preis für komische Literatur bekam. Vielleicht ist das menschliche Leben komischer, als wir denken."

Verwahrlost und kraftlos

Die Geschichte von Georgie Sinclair ist tatsächlich komisch, weil Georgie sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Sie hat sich gerade von ihrem Mann getrennt, ihr Sohn lebt abwechselnd bei ihr und ihm, hockt aber meist vor dem Computer in seinem Zimmer und verliert sich in Weltuntergangsszenarien.

Georgie verdient ihren Lebensunterhalt als Autorin für ein Fachmagazin über Klebstoffe. Sie hat ein wenig zugenommen und fängt an, zu verwahrlosen, geht meist in einem alten Mantel auf die Straße, der an eine Fledermaus erinnert; sie weiß eigentlich nicht so recht, warum ihr Leben auseinanderfällt, aber sie hat auch nicht die Kraft, das zu ändern.

Aber bisweilen hilft es ja, wenn man sich um andere kümmert: Die Begegnung mit der alten Mrs. Shapiro, die eine Vorliebe für dramatisches Make-up, hohe Schuhe, verdorbene Billigprodukte und Katzen hat, ändert Georgies Leben. Die alte Dame lebt mit ihren sieben Katzen in einem verwahrlosten alten Haus, das fast ebenso lange nicht mehr geputzt wurde, wie sie selbst sich nicht mehr gewaschen hat. Die beiden Frauen lernen sich bei der Schnäppchenjagd im Supermarkt kennen, und als Naomi Shapiro ins Krankenhaus eingeliefert wird, gibt sie Georgie als Bezugsperson an. Sie hat ja sonst niemanden.

Das Problem der alten Dame ist gleichzeitig ihr Kapital: Ihr altes Haus gerät ins Visier gieriger Makler und korrupter Sozialarbeiter, und bei der Abwehr zahlreicher Usurpatoren, die Mrs. Shapiro am liebsten im Pflegeheim und den Gegenwert der Villa in Form von britischen Pfund auf ihrem Konto sähen, gerät wiederum Georgie mehr und mehr in einen Strudel aus Verantwortung und Verzweiflung.

Hinzu kommt: Naomi Shapiro ist Jüdin, ihren Mann, einen wunderbaren Geiger, hat sie in diesem Haus zu Tode gepflegt; der Aufbruch ins gelobte Land, nach Israel, war nie gelungen. Nun aber muss das Haus, dieses Relikt einer großen Liebe, renoviert und gerettet werden, und wen engagiert Georgie, ohne es zu wissen? Palästinenser, die sie für Pakistaner hält. Wer weiß das schon so genau im multikulturellen London, und ist es nicht auch egal? Nicht ganz, denn Juden und Palästinenser eint bekanntlich keine große Liebe - auch nicht fern des umkämpften Terrains in Palästina.

Warmherzige Unterhaltung

Und so eskaliert die ganze Geschichte aufs groteskeste: Immobilienmakler makeln auf höchst intrigante Art, und Sozialarbeiter arbeiten wenig sozial, Mrs. Shapiro setzt ihren "Darlink", die herzensgute und zu ungeahnter Hochform auflaufende Georgie zur Rettung ihres Lebens ein, und nachdem auch unerwartete Verwandte, verloren geglaubte Partner, unfähige Anstreicher und liebeshungrige Kollegen zur Raison gebracht sind, endet die ganze Geschichte in geordnetem Chaos, soweit sich Chaos ordnen lässt. Das Ganze ist keine große Literatur, aber ein großes Stück warmherziger Unterhaltung, hervorragend übersetzt.

Marina Lewycka hat einmal gesagt, sie habe sich lange wie Treibgut auf einem fernen Strand gefühlt - bis sie ihre verloren geglaubte Familie in der Ukraine wiedergefunden hatte. Ihre Eltern waren nach dem Krieg über Deutschland nach England gekommen, ein Teil der Familie hatte den Krieg und den Hunger in der fernen Ukraine nicht überlebt. Erst spät, nach dem Tod der Eltern, reiste Lewycka dorthin, wo ihre Wurzeln waren; seither fühlt sie sich komplett und weniger wie Treibgut als wie jemand, der hier und dort daheim ist.

In ihren wunderbaren Frauenfiguren, der fledermausigen Georgie Sinclair und der alten Naomi Shapiro, zeigt Lewycka, was und wie Heimat sein kann. Manchmal liegt sie nur einen Straßenzug entfernt.

MARINA LEWYCKA: Das Leben kleben. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010. 460 Seiten, 14,90 Euro.

© SZ vom 28.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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