Mail-Roman:Toter Spatz am Fahrersitz

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Tilman Rammstedt hat in täglichen Mails seinen Lesern Geschichten erzählt, Motto: "Morgen mehr". Nun kann man das gedruckt sehen, als Roman.

Von Nicolas Freund

Es gibt Romane, die wollen alles, nur kein Roman sein. Das ist gut, denn erstens ist der Begriff des Romans nach wie vor eher vage umrissen, und zweitens sind es gerade die besten Vertreter dieser literarischen Gattung, "Moby Dick" zum Beispiel oder "Tristram Shandy", die alles Mögliche sind, aber eben nicht nur einfach ein Roman.

Es gibt aber auch Texte, die wollen um jeden Preis ein Roman sein. "Morgen mehr" von Tilman Rammstedt ist ein solcher Text. Roman heißt hier zunächst einmal "gebundenes Buch". So mit Buchrücken fürs Bücherregal und mit frechem, buntem, auffälligem Titelbild für den Wühltisch beim Hugendubel. Am besten im Umfang von etwas mehr als 200 Seiten, denn das sieht nach was aus, ist aber nicht so viel, dass es vom Kauf für den Strandurlaub abschrecken könnte. Die Einteilung des Textes in Kapitel und nicht zuletzt der dezente Hinweis auf dem Titel ("Roman") gleich neben dem Verlag ("Hanser") legen nahe, dass es sich tatsächlich um einen Roman handelt. Das ist schade. Denn der Text war schon viel mehr als einfach nur Roman.

"Morgen mehr" startete als literarisches Experiment, als work in progress, als Blick in die tägliche Arbeit in der Schreibwerkstatt. Rammstedt hat im Frühjahr 2016 praktisch live an dem Buch geschrieben. Jeden Tag bekamen die zahlenden Leser per E-Mail oder Whatsapp eine Fortsetzung geschickt, Fans diskutierten mit Rammstedt und Hanser-Chef Jo Lendle online über die neuesten Fragmente (#morgenmehr).

Das war der Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts, umgesetzt mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts, erzählt für die Generation Netflix. Keine Neuerfindung der Literatur, aber eine erfrischende, hellwache und in ihrer Aktualität trotzdem ganz unangestrengte Auseinandersetzung mit dem Häppchenkonsum der TV-Serien und der Schnelligkeit digitaler Medien. Für Tilman Rammstedt selbst war diese Veröffentlichungsform eine willkommene Selbstmotivation, denn Schreibblockaden und andere Autoren-Allüren kann sich nicht leisten, wer den zahlenden Lesern jeden Tag ein paar neue Seiten versprochen hat.

Streben danach immer noch alle Texte - einmal auf Papier gedruckt zu werden?

Diese Texte nun als Buch, respektive als einen "Roman" zu veröffentlichen, ist, als würde man die lustigsten "Tatort"-Tweets oder den Newsticker vom letzten Bayernspiel Monate später abdrucken und in den Buchläden auslegen: überflüssig, einfalls- und kontextlos. Ein Stück weit relativiert es auch die ursprüngliche digitale Veröffentlichung, denn anscheinend ist es noch immer das Schicksal, das jeder Text am stärksten erstrebt, irgendwann einmal auf Papier gedruckt zu werden, selbst wenn ihm das, wie in diesem Fall, eindeutig nicht guttut. Denn was als Versuch mit Narrenfreiheit im Netz gut funktioniert, kann als altehrwürdiger Roman leicht scheitern, vor allem, wenn es sich selbst zu einem solchen ernennt.

Die Handlung von "Morgen mehr" ist eine deutsche Roadmovie-Komödie in Textform. 1972: Der noch ungeborene Erzähler zählt alle skurrilen Ereignisse auf, die abwechselnd seinem zukünftigen Vater und seiner zukünftigen Mutter auf einer unfreiwilligen Reise nach Paris widerfahren sind. Seine Mutter ist gerade auf Selbstfindungstrip in Marseille dabei, eine Liste mit Dingen, die sie unbedingt einmal tun möchte, abzuarbeiten. Darunter: "mit einem schwermütigen Franzosen schlafen", "sich ein blaues Auge holen" und "die Zeit anhalten".

Bis auf den letzten Punkt läuft das Abarbeiten ganz gut. Der Vater des Erzählers jagt indessen noch einer anderen Frau hinterher: Claudia, die aber gerade mit ihrem Mann auf dem Weg in die Flitterwochen nach Paris ist. Unterwegs gabelt der Vater aus Versehen den Kleinkriminellen Uwe, genannt Dimitri, auf. Wenig später schließt sich den beiden als "Praktikant" ein Junge an, der Fragen nachhängt wie "ob ich wohl gerade mehr Hunger als Haare habe?" und in seinem Notizbuch "Paris ist fünfmal so groß wie es selbst, da es aus zwanzig Vierteln besteht" und andere Weisheiten festhält. Auch drei Gangster in Pelzmänteln kommen vor und fahren ein Stück weit mit.

Die knapp gehaltenen Stationen der Reisen sind wild zusammengesponnen, die Figuren allesamt liebevoll ausgemalte Chaoten. "Und als Claudia einmal auf der Toilette war, wollte er sie damit überraschen, das Auto mit lauter weißen Tauben zu füllen, die romantisch herausflattern sollten, wenn Claudia die Wagentür öffnete. Der einzige Vogel jedoch, den er in der Eile fand, war ein toter Spatz, der sich auf dem Fahrersitz dann gar nicht so romantisch machte, wie er leider zu spät bemerkte." Der Humor wirkt leider fast immer hilflos und erinnert unangenehm an flache deutsche Vorabendkomödien, die mittelmäßige Einfälle so lange ausquetschen und weitertreiben, bis auch ganz sicher niemand mehr lacht.

"Wir wissen wenig über die Zukunft. Aber manchmal wissen wir doch, wie es weitergeht. Nämlich mit dem nächsten Kapitel." Was in der digitalen Unmittelbarkeit zwischen Autor und Publikum gut funktioniert, wirkt in Buchform, als solle der arme Leser für alles ständig in Sippenhaft genommen werden. Auch die meist zu weit fabulierten und konstruierten Einfälle haben im Wissen, dass sie von einem Tag für den nächsten geschrieben worden sind, einen gewissen Charme. Als Kapitel für einen Roman angeordnet, wirken sie aber unfertig und hingeschludert. Am Ende bleibt von einem interessanten Experiment und einer sympathischen Idee nur ein bemühter Roman. Aber immerhin: ein Roman. Und das sollte ja schließlich so sein. Oder?

© SZ vom 11.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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