Märchenroman:Parzival im Westen

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Håkan Nesser: Elf Tage in Berlin. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. btb-Verlag, München 2015. 384 Seiten, 18 Euro. E-Book 13,99 Euro. (Foto: N/A)

Nach New York und London vollendet der schwedische Autor Håkan Nesser seine Großstadttrilogie mit einem Ausflug in die deutsche Hauptstadt.

Von Stephan Opitz

Wenn ein Hund der Sorte "Promenadenmischung" Geraldine Patel heißt und ein Rüde ist, dann möchte man etwas mehr über diesen Hund erfahren. Der Hund gehört einem Großvater. Der lebt in Krusendorf an der Eckernförder Bucht und erzählt seiner Enkelin, dem klugen, kränklichen und unglücklichen Mädchen Beate Bittner, dass Geraldine Patel ihm, dem Großvater und sonst keinem, erzählt habe, dass er Geraldine Patel heiße. Übrigens habe der Hund nur einmal in seinem Leben gesprochen - als er seinen Namen nannte. Beate erbt den Hund, als der Großvater stirbt. Ihre Eltern sind strenge evangelikale Pastorsleute in einer obskuren Gemeinde in Schleswig-Holstein. Einige Monate nach Großvaters Tod verschwindet auch Geraldine, und Beate wird unglücklicher und kränklicher, da hilft auch der strenge Hinweis des Vaters nichts, sie möge zu "Davih" beten (Der allmächtige Vater im Himmel).

Håkan Nessers neuer Roman hat nicht weniger als drei "Vorspiele" (eines davon über das Mädchen Beate), bevor es nach Berlin und deswegen allerdings noch lange nicht zur Sache geht. Denn die Sache ist verwickelt und ebenso märchen- wie sagenhaft. Ein erstes Vorspiel erzählt von Arne Murberg, einem Jungen und später jungen Mann von ca 30 Jahren irgendwo in einer mittleren Stadt in Schweden. Arne ist ein schlaues Bübchen, bis er als Jugendlicher zu unvorsichtig in einen See springt und sich den Kopf gottsjämmerlich verletzt - sein Hirn funktioniert danach nur noch eingeschränkt. Das zweite Vorspiel: Als Arne knapp ein Jahr war, brannte seine Mutter, Violetta Dufva, mit einem Schlagersänger nach Berlin durch - Vater Torsten liegt im Sterben und nimmt Arne das Versprechen ab, nach Berlin zu reisen und seine Mutter aufzusuchen, Onkel Lennart und Tante Polly würden ihm dabei helfen. Was die beiden hoch und heilig versprechen.

Ein drittes Vorspiel handelt von Professor Anatolis Litvinas; wir sind irgendwo in Holland, aber auch in Leipzig und bei Spitzbergen. Wir treffen ihn in einer psychiatrischen Klinik, der Mann ist schwer schizophren, durchgeknallter Mystiker und Parapsychologe. Dass er eine kleine oder größere Terrorattacke ohne Hintermänner und Ziel plant, wird rasch deutlich. Das gilt auch für Faustverweise mittels eines in Leipzig in der Nähe von Auerbachs Keller auftauchenden Pudels.

Arne - wenn man so will, auch eine Promenadenmischung: aus Parzival und Hans im Glück - reist nach Berlin, ausgestattet mit einer Hotelbuchung, einer Kreditkarte, einem Mobiltelefon und Bargeld für ein paar Tage. Die Sache mit der Mutter klärt sich auf (und dann doch wieder nicht), er trifft Beate Bittner (sie ist Bibliothekarin und weitgehend an den Rollstuhl gebunden) und den durchgeknallten Professor. Der stirbt bei seinen üblen Machenschaften, in Beate verliebt sich Arne; sie werden ein Paar.

In zahllosen kleinen Binnenerzählungen und aus den drei Vorspielen geflochtenen Erzählsträngen schickt Nesser seinen aufmerksamen Hans im Glück durch Berlin, wobei der sich eher auf den alten Westen konzentriert, wo er auch wohnt. Das alles kommt leichtfüßig, manchmal betörend eingängig daher. Man liest, als ob man jemand beim Five o'Clock Tea zuhören könnte. Das steht im entschiedenen Gegensatz zu den ersten beiden Romanen der nach Stationen in New York und London nun mit Berlin abgeschlossenen Großstadttrilogie Nessers.

Das Buch ist wohl Astrid Lindgren gewidmet; dafür spricht einerseits das von ihr stammende Motto des Romans ("Eine Botschaft habe ich nicht. Aber ich möchte für Toleranz gegenüber dem menschlichen Wahnsinn werben"), andererseits Astrid Lindgrens Buch über die Brüder Löwenherz. Die gute Fee in Nessers Berlin-Roman ist die kränkliche Beate Bittner; sie hat sich mit den Brüdern Löwenherz so ganz sachte hoch in ein selbstbestimmtes und freies Leben gezogen. So ein Leben winkt auch Arne Murberg am Ende seiner Grand Tour nach Berlin.

Dem Lindgren-Subtext gegenüber spielen die Verweise auf den in Deutschland weniger bekannten schwedischen Schriftsteller Tage Danielsson eine weniger umfangreiche Rolle - allerdings ist der Titel von dessen Erzählungsband "Märchen für Kinder über 18 Jahre"( 1964) eine prima Beschreibung dessen, was den Leser in den elf Tagen in Berlin so erwartet.

© SZ vom 04.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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