Lyrik:Geräusche, die der Wind macht

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Kaum Metaphern, kaum Rätsel, niemals eine Idee und trotzdem einzigartig: Jürgen Beckers Journalgedicht "Graugänse über Toronto" ist eine Registratur des Tagesgeschehens.

Von Christoph Bartmann

Wenn Jürgen Becker nicht da wäre und keine Journalgedichte schriebe, dann würde der Welt etwas fehlen. Sie wäre ärmer ohne sein stetiges, nun schon ein halbes Jahrhundert andauerndes lyrisches Selbstgespräch, dessen geografische Koordinaten seit Langem feststehen: Odenthal, die mäßigen Anhöhen des Bergischen Lands, im Dunst darunter die Kölner Bucht, weiter in der Ferne die Ardennen, dann Ostende, vielleicht sogar Toronto. "Die Erinnerung an etwas, das in den Erinnerungen/nicht vorkommt; Graugänse über Toronto."

Gibt es überhaupt Graugänse über Toronto (laut Wikipedia kommen sie vor allem in Europa vor)? Und wie erinnert man sich an etwas, das in den Erinnerungen nicht vorkommt? "Graugänse über Toronto", solche genauen, aber nicht unbedingt realen topografischen und atmosphärischen Eingebungen, findet man in Beckers Gedichten immer wieder, ausgelöst hier vielleicht von "Kanada im Karton auf dem Speicher". Graugänse sind es, nicht irgendwelche Gänse. Man stellt sich dazu weniger ein konkretes Gänsegrau vor als ein Gerhard-Richter-Grau.

Parallelen zwischen Richter und Becker drängen sich auf. Derselbe Jahrgang (1932), Jugendjahre in Sachsen beziehungsweise in Thüringen, Prägungen im Rheinland der Sechzigerjahre, das Interesse an Pop Art und Fluxus, Fotografie und Landschaft, und an Grau in allen Schattierungen, Hellgrau, Wolkengrau, Mausgrau. Beckers Journalgedicht gibt eine große Gelassenheit an seine Leser weiter. Nichts wirklich Neues unter dem Bergischen Himmel. "(...) wir kennen/die Gegend; kein Flügelschlag, kein Feldweg führt uns heraus/aus der Reichweite ihrer Geschichte."

Ein Mann sitzt in seinem Haus, registriert die täglichen kleinen Vorkommnisse, hört Radio, liest Zeitung, macht sich Gedanken, Erinnerungen melden sich, Aktualitäten branden heran und ebben wieder ab; und all dieses disparate Material fließt ein in das große, lange Tagebuchgedicht, das kein Ende sucht und deswegen mit einem Gedankenstrich endet. "Brechen wir ab. Was sich anhört wie/Seufzen, kommt von den alten Dachrinnen her,/die an der Scheunenwand lehnen, und wir lassen/ sie stehen, für das Geräusch, das der Wind macht,/wenn er sich darin fängt -".

Journale oder Tagebücher schreiben viele, aber wenige schreiben wie Becker Journalromane, -geschichten, -gedichte oder -sätze. Das Journalgedicht verzeichnet nicht das Datum des Eintrags, es hält auch wenig tagesaktuell Berichtenswertes fest. Es verknüpft stattdessen mit unscheinbarer Artistik die tägliche und stetige Registratur mit der großen, atmenden Form des Prosagedichts.

Hier gibt es kaum Metaphern, kaum Rätselworte, keine Ideen, die sich nicht vergegenständlichen

Wahrscheinlich ist Becker der deutschsprachige Meister des modernen Langgedichts amerikanischer Herkunft, das sich durch pragmatischen Realismus, Verzicht auf Symbolismen und Dunkelheiten auszeichnet, und durch eine Haltung, die William Carlos Williams als "no ideas but in things" charakterisiert hat. Das Menschenfreundliche, Zu- und Umgängliche in Jürgen Beckers Lyrik verdankt sich auch dieser Haltung. Kaum Metaphern, kaum Rätselworte, und niemals eine Idee, die sich nicht vergegenständlicht. "Die Amseln/baden in der Tränke. Eisfreie Häfen. In Sicht/keine Leichen. Planwagen, schwarzweiße Filme, Wintermusik;/Pelzmäntel schaukeln in der Garderobe."

Man sollte Beckers Journalgedicht immer zur Hand haben, um daraus die eine oder andere Zeile zu lesen (und wieder zu lesen). Man bekommt bestimmt nicht genug von dieser frei schwebenden Aufmerksamkeit, die ihre Gegenstände zart gliedert und alles in ein leuchtendes Hellgrau taucht.

Jürgen Becker: Graugänse über Toronto. Journalgedicht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 92 S., 20 Euro.

© SZ vom 20.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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