Lyrik:"Ein Strich durch alles"

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Lyrikmuster wie bei den sumerischen Priesterinnen: die Schweizer Dichterin Ilma Rakusa. (Foto: Simon M. Ingold)

Die "Münchner Reden zur Poesie" im Lyrik Kabinett feiern ihren zehnten Geburtstag. Zum Jubiläum spricht die Schweizer Dichterin Ilma Rakusa über Listen in der Dichtung - und damit über die Zukunft

Von Philipp Bovermann

Dreimal selig, wer einen Namen einführt ins Lied." Mit diesen Worten begann Marcel Beyer vor zehn Jahren die erste "Münchner Rede zur Poesie" im Lyrik Kabinett - es gab also nun ein Jubiläum zu feiern, als die Dichterin Ilma Rakusa, die erste Schweizerin der Reihe, am Mittwoch ihren Vortrag zu "Listen, Litaneien, Loops" hielt.

Frieder von Ammon, Mitherausgeber der auch gedruckt erscheinenden Reden, führte daher einleitend eine ganze Revue von Namen ins Lied ein - um nicht zu sagen eine ganze Liste, und irgendwie auch eine Litanei: Friedhelm Kemp etwa oder Jan Wagner, der kommenden Mittwoch im Lyrik Kabinett eine "Zwiesprache" mit Ted Hughes halten wird. Der Ungar Péter Esterházy hielt seine Rede in Form fiktiver Tagebucheinträge ("Montag: Ich, Dienstag: Ich, Mittwoch: Ich"). Uljana Wolf sagte 2009 in ihrer Rede über ein Prosagedicht von Lydia Davis: "Der Text mündet in einer nur durch Kommata und Semikola leicht getakteten Endlosschleife, statt plots und dots" - statt Handlungen und Punkten - "eine Serie von knots", Knoten.

Ein Satz, der problemlos auch in die Rede von Ilma Rakusa gepasst hätte. Listen, so ihre These, verknoten das Widerspenstige, was eigentlich nicht zusammengehört, dann aber doch eine rätselhafte Synthese bildet, wenn, in der berühmten Losung der Surrealisten, "ein Regenschirm und eine Nähmaschine auf einem Seziertisch" zur alchemistischen Reaktion gebracht werden - oder eben in einer Liste.

Rakusa liest ein Gedicht von Danilo Kiš, eines in Deutschland wenig bekannten jugoslawischen Autors des 20. Jahrhunderts. Auch andere eher abseitige Stimmen finden bei ihr Platz, zum Beispiel der Amerikaner Robert Lax oder der futuristische russische Dichter Welimir Chlebnikow. Auch diese Funktion haben Listen: Sie sind Inventare, rein formale Erinnerungsspeicher, ohne die dazugehörige Geschichte, nur durch Satzzeichen verbunden, "eine Vielfalt von Nichts", wie Rakusa sich ausdrückt, die "antipathetische Rekonstruktion" einer sich auflösenden Welt. Ein Gedicht von Friedericke Mayröcker an ihren Geliebten Ernst Jandl ist dabei. Darin stehen die Substantive ohne klaren Bezug zueinander oder zum Angerufenen, die meisten davon sind Wortneuschöpfungen: "meine Artischocke/ meine Mitternacht/ mein Rückwärtszähler."

Die gleichen Muster findet Rakusa bei den Litaneien der sumerischen Priesterinnen im 24. Jahrhundert vor Christus: unabschließbare Reihungen immer neuer Attribute der Gottheit, unter der wiederkehrenden Formel "Dies ist dein Name", als erobere sich die Gottheit nach und nach, im Rhythmus der Anrufung, die gesamte Schöpfung. Ein tranceartiger Zustand, in dem sich die Welt, so die Dichterin, "fächerhaft öffnet". Es ist, als sprächen die Partikel einer Liste miteinander. Auch die Lyriker, die an diesem Abend genannt werden, scheint ein magischer "Strich durch alles" zu verbinden.

Nicht als salbungsvolle Festrednerin der Dichtung oder einer sich jährenden Veranstaltungsreihe tritt Rakusa auf, sondern als Archivarin. Sie verbindet nicht, sondern inventarisiert, ohne das Aufgerufene einer Tradition einzugemeinden. Die Liste, weil ihr das Verbindende fehlt, öffnet sich nicht in die Vergangenheit, sondern wie eine Zahlenreihe in die Zukunft - ein ziemlich "listenreicher" Kommentar zum Geburtstag der "Münchner Reden zur Poesie".

Die nächste Lesung: "Zwiesprachen VII: Jan Wagner über Ted Hughes", Mittwoch, 16. März, 20 Uhr, Lyrik Kabinett, Amalienstraße 83/ Rückgebäude

© SZ vom 11.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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