Lyrik:Das wahre Delitzsch

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Thomas Kunsts neuer, tänzerischer Gedichtband "Kolonien und Manschettenknöpfe" lässt mithilfe der Worte verschiedenste Vorstellungswelten auf engstem Raum miteinander reagieren.

Von Tobias Lehmkuhl

Die La-Plata-Küste, Mozambique, das Hunza-Tal in Pakistan - und Thomas Kunst greift noch weiter aus. Bis auf den Mount Everest, ja bis hinauf in den Weltraum reichen seine Gedichte. Aber auch das nicht allzu ferne Rügen, die Hebebühnen von Delitzsch-West ("an der Shell Tankstelle, Höhe Securiusstraße"), der Paupitzscher See und die Monheimer Allee tauchen hier auf. Wobei der Stadtplan von Delitzsch, einem Ort dreißig Kilometer nördlich von Leipzig, dem Wohnort des Autors, nur eine Monheimer Straße kennt, keine Allee. Ein Hinweis darauf, dass Kunst das wahre Delitzsch vielleicht genauso fremd ist wie das Hunza-Tal, der Chilva-See und Quelimane?

Ob Thomas Kunst tatsächlich einmal in Pakistan war oder gar im Weltraum, spielt für seine Gedichte dabei keine Rolle. Es geht dem 1965 in Stralsund geborenen Autor nicht darum, eigene Beobachtung in lyrische Sprache zu fassen. Ihn interessiert vielmehr, die verschiedenen Vorstellungswelten, die mit den einzelnen Worten verknüpft sind, auf engstem Raum miteinander reagieren zu lassen. Schon der Titel des Bandes, in dem ein konkreter Gegenstand mit einem politischen Konzept kollidiert, weist auf dieses Prinzip hin. Sucht man auf den folgenden Seiten nach dem entsprechenden Vers, tun sich gleich neue Fragen auf: "Makumba und/ Matemba, Kolonien an Körpertemperatur/ Unter den Manschettenknöpfen, die Beine in/ den Flanken eines minuziösen Kontinents."

Wenn man sich fragt, wie es Thomas Kunst gelingt, so disparates Material auf so engem Raum unterzubringen, ohne dass das Ganze beliebig wirkt oder einem um die Ohren fliegt, so liefert eine Liste von Schallplatten am Ende des Bandes einen Hinweis: Kunst weiß wie ein guter DJ die Elemente seiner Versmusik gut zu mischen und nahtlose Übergänge dort zu schaffen, wo eigentlich gar keine Verbindung zu existieren scheint.

Auch Pferde, Flussdelphine und das Flachdach-Carport Arcadia 5000 tauchen in Kunsts Gedichten immer wieder auf. Gemeinsam mit den Ortsnamen bilden sie ein Reservoir an Klang- und Bildelementen und zugleich eine Art Privatmythologie. Doch Kunst arbeitet nicht allein mit der sanften Kollision von Wirklichkeitssplittern. So widmet sich das längste Gedicht des Bandes durchaus erzählerisch der Schneekatastrophe in Norddeutschland im Winter 1978/79: "als ich / dreizehn Jahre alt war, gab es auf Rügen sechs Meter/ hohe Schneewehen, Flugsand, Eisregen und die maßlos/ übertriebenen Regalauffüllungen aus Temperatursturz und/ einigen bis an die Obergrenze verschmierten Wind-/ Entgleisungen".

Auch dem mit Thomas Kunst befreundeten Feridun Zaimoglu begegnet man in diesem Band mehrmals. Beide Schriftsteller teilen eine kindliche Begeisterungsfähigkeit, einen zuweilen euphorische Schreibgestus. Als Leser lässt man sich gerne davon anstecken und tanzt mit, wenn Kunst im vorletzten Gedicht des Bandes alle vorhergehenden Motive noch einmal neu remixt: "An der Delitzscher Küste, die nahe Großstadt/ Leer und morsch, mit einem Luftgewehr wohl/ kaum noch zu zerlegen".

Thomas Kunst: Kolonien und Manschettenknöpfe. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 126 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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