Lyrik aus Schweden:Schneebeerensammlerin

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Katarina Frostensons Gedichtband verwandelt Impressionen von Natur in Sprachlandschaften.

Von NICO BLEUTGE

Gefragt nach ihrem "Jahrhundertbuch", entschied sich Katarina Frostenson vor einigen Jahren für Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften". Besonders fühle sie sich von den einsamen, über die Seiten gleitenden und "ungreifbaren" Wegen der Gedanken angezogen: "Musil hat die Struktur des Romans als Kraftfeld beschrieben, als nahezu endlosen Raum für Verbindungen und Möglichkeiten des Zusammenhangs, mit sich kreuzenden Linien und Verwerfungen, unterirdischen Gängen, Raumvariationen." Vielleicht hat die 1953 in Stockholm geborene schwedische Autorin damit zugleich ihr eigenes Schreiben charakterisiert, dieses stets ungreifbare Gleiten zwischen sinnlichen Momenten und Gedanken, ein Kraftfeld aus Rhythmus, "Schneebeeren" und Klang, das die unterschiedlichsten Sprachen in der Schwebe hält.

"Lass / der Stimme Pelztier durch deine Zeilen ziehen", heißt es an einer Stelle. Es ist der Auftakt zu einem Zyklus, der sich "Rede aus einem Monat" nennt. Ein Ensemble von Stücken, von denen jedes kaum mehr als fünf Zeilen umfasst - und doch verwahrt der Zyklus auf wundersame Art und Weise einige der Ideen, die Katarina Frostensons Poetik ausmachen. Noch im unscheinbarsten Vers wird der Versuch erkennbar, der Sprache sinnliche Details einzuschmelzen, immer wissend, dass die Dinge in der Sprache verschwinden: "Sei in etwas, im Gelenk des Kiefers, in der Wange / wo es sticht. Schneegestöber früh, alles wirbelt durcheinander / in den Sinnen." Neben diese Wahrnehmungsmomente treten kleinste Wort- und Lautverwandlungen. Aus der "Wake", einer offenen Stelle im Eis, wird hier die "Wange", um im nächsten Stück "Wache" zu sein.

Doch die Dichterin gibt sich im Schneegestöber nicht dem Phantasma reiner Unmittelbarkeit hin. Alles wird getragen von einem poetischen Nachdenken darüber, wie sich das Einzelne und seine Fixierung in einem Begriff zueinander verhalten, wie groß der Spalt zwischen den Dingen und der Sprache ist, und wie die sprachlichen Schichten sich anfühlen, es mag ein Alltagswort sein oder die Sprache der Bibel. Am Grunde dieser Verse schimmert gleichwohl die Idee einer Rede durch die Zeilen, die sich von der Frage nach ihrer Bedeutung abgelöst hat. Es scheint so etwas wie der Fluchtpunkt von Frostensons Schreiben zu sein, das Pelztier, das seine Gänge in die Sprache gräbt: "Schneegestöber, Schneebeeren. / Rote Glocken schlagen in der Stille. Man kann sich durchströmen / lassen von diesem Monat, keine Fragen nach großem Sinn."

Schreibt neben Lyrik auch Dramen und Prosa: Katarina Frostenson. (Foto: imago)

Vom Strömen indes führt eine direkte Verbindung in die Landschaft. Vor einigen Jahren nahm Katarina Frostenson an einem Dichtungsprojekt teil, das den schönen Namen "Die Poetische Landschaft" trug. Es interessiere sie weniger, hielt sie damals fest, eine Landschaft abzubilden, als aus der Begegnung zwischen der Landschaft und der Imagination etwas Neues zu schaffen. Die Landschaft abtasten, hieß es damals, "ihre historischen Spuren, Materialisationen in den Dingen wie in der Sprache verfolgen, neu kombinieren, potenzieren; die Landschaft lesen und eine zweite, sprachliche jetzt, aus ihr hervorarbeiten."

Die Lust an der Bewegung, am Schwimmen und Fließen, rhythmisiert die Verse

Und so ordnen sich die Worte mit der Landschaft. Die Sprache scheint aus der Landschaft zu fließen und die Landschaft gleichermaßen aus der Sprache: "Satte Tage öffnen die Zeilen". Nicht von ungefähr trägt die erste Gedichtsammlung, die von Frostenson auf Deutsch erschienen ist, den Titel "Die in den Landschaften verschwunden sind" (1999). Es sind Landschaften, die oft von Flüssen durchzogen werden, Schwimmen und Fließen bilden dort die Aggregatzustände, das Auflösen fester Ordnungen und das Aufgehen in der Bewegung.

In ihrem Band "Sprache und Regen" nimmt Frostenson diese Lust an der Bewegung auf. "Entgleitend, anwesend", sind die Verse, mal "Gemurmel", mal "Gesangsrest", mal ein Tümpel, mal eine Pfütze oder ein Rinnsal. Für diese Bewegung hat Frostenson ebenso bewegliche Formen gefunden: Hier verbinden sich die Sätze zu rhythmisch fein variierten Langzeilen, dort zu lockeren Konstellationen, in denen die Wörter manchmal wie Figuren auf dem Papier verteilt sind. Und so, wie die Verse ihren Rhythmus ändern, wechselt Frostenson zwischen den Genres hin und her, schreibt Landschaftsskizzen oder verwandelt sich antike Mythen an, entwirft Porträts (von Rosa Luxemburg zum Beispiel) oder Gemäldegedichte - wie sie überhaupt gern mit Farben schreibt.

Dabei genügen sich die Verse nicht an ihrem Fließen. Sie mischen verschiedene Sprachschichten und nehmen Begriffe unserer Gegenwart, die "Krise" etwa, kritisch in den Blick, indem sie die Wörter neuen Umgebungen aussetzen: "Ein Tiger schmal wie ein Futteral glitt aus der Zeile was die Krise gebiert / Wacholder schoss daraus hervor, ein Ast mit Astaugen". Dazu holen sie historische Spuren in ihren Rhythmus, "Schlackenvorkommen", Kriegsreste - und zeichnen nach, wie sie mit der eigenen Erinnerung verbunden sind.

Verena Reichel hat in ihren Übersetzungen immer wieder schöne Lösungen für diese sprachlichen Verschränkungen gefunden. An manchen Stellen hätte man sich die schwedischen Texte zur Hand gewünscht, um einer allzu pathetischen Formulierung nachhorchen oder sich die eine oder andere Klangfigur ansehen zu können. Sei's drum. Monika Rinck hat ein lesenswertes kleines Nachwort geschrieben, das ein wenig in die Wasserschichten der Verse hineinleuchtet. Es ist eine Bewegung in diesen Gedichten, ein Summen und Klopfen jenseits der bekannten Muster, mit Wegen und Gängen und Linien, die sich kreuzen - "dass nichts / vergeblich ist".

Katarina Frostenson: Sprache und Regen. Gedichte. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Mit einem Nachwort von Monika Rinck. Carl Hanser Verlag, München 2016. 96 Seiten, 15,90 Euro.

© SZ vom 09.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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