Luthers Stadt:Türme, Thesen und Touristen

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Wittenberg hat 500 Jahre Zeit gehabt, sich auf den Ansturm der Protestantismus-Pilger vorzubereiten. Ein Gang durch die Straßen und durch die neuen Ausstellungen.

Von Gottfried Knapp

Es ist zwar leicht übertrieben, wenn man sagt: Die Stadt Wittenberg hat 500 Jahre Zeit gehabt, sich auf ihr wichtigstes Jubiläum vorzubereiten. Aber zumindest weiß die Stadt seit ein paar Jahrhunderten, dass die von ihrem ehemaligen Universitätsprofessor Martin Luther am 31. Oktober 1517 angeblich an die Tür der Schlosskirche genagelten, jedenfalls aber veröffentlichten 95 Thesen einiges Aufsehen in der Welt erregt haben - um es mal bescheiden auszudrücken. Und da diese Thesen überall dort, wo sie ehedem als Botschaft begriffen und begrüßt worden sind, am Stichtag immer schon gefeiert wurden, lag es nahe, dass die Stadt, die sich seit 1922 "Lutherstadt" nennt, das Jubiläum des erfüllten halben Jahrtausends wahrnimmt, um wieder einmal und nun in mehrhundertfach verstärkter Form an dieses epochale Ereignis zu erinnern.

Den Reisenden, die in diesem Jahr in ungeheuren Massen über die Stadt in Sachsen-Anhalt herfallen, bietet sich das historische Zentrum mit den großenteils gut erhaltenen Gedenkstätten in festlichem Glanz dar. Entlang der zentralen Straßenachse - an ihr sind die historisch bedeutsamen Gebäude locker aufgereiht - wurden alle Fassaden mustergültig restauriert. In der Mitte der Straße kann der Stadtbach wieder offen fließen. Und da die den Bach begleitenden Geländer mit Blumen behängt sind und überall neue gastronomische Betriebe zum Verweilen im Freien einladen, dürfte das Staunen bei Leuten, die den protestantischen Wallfahrtsort mit seinen Welterbestätten noch als verschlafene, schmutzgraue Provinzstadt in Erinnerung haben, groß sein.

Man ringt hier mit dem Glauben - unter freiem Himmel ebenso wie in einem alten Gefängnis

Weniger glücklich sind die Veränderungen, die sich die Deutsche Bahn als Partner der Jubiläums-Veranstalter für den Ort ausgedacht hat, an dem viele der Besucher ankommen sollen. Das Bahnhofsgebäude wurde restlos abgerissen; nur noch zwei Fahrkartenautomaten, die dem Massenbetrieb niemals gewachsen sein werden, stehen als stumme Diener unter einem riesigen Zeltdach herum, das bei Regen keinen richtigen Schutz bietet.

Umso mehr wird den Ankommenden der 30 Meter hohe Turm auf dem Bahnhofsvorplatz ins Auge fallen, der auf seiner Außenseite alle Seiten der neuesten Luther-Bibel trägt. Diese Monumentalausgabe der Bibel zeigt den Eifrigen, die in ihrem Inneren bis zur Plattform hinaufsteigen, auf der einen Seite die Türme und Dächer der Wittenberger Innenstadt, auf der anderen die Elbwiesen, auf denen am Wochenende der Deutsche Evangelische Kirchentag seine Abschlussveranstaltungen zelebrieren wird. Dieser Jubiläums-Kirchentag wird an diesem Mittwoch mit viel Prominenz in Berlin und eben in Wittenberg eröffnet.

Der Bibelturm am Bahnhof fungiert quasi als Eingangstor in die von der Evangelischen Kirche und vom Kirchentag organisierte "Weltausstellung Reformation", die mit ungeheurem Aufwand in die Wallanlagen rings um die Altstadt hineingeschmiegt und hineingewuchtet worden ist. Auf zahlreichen Bühnen und Podien unter freiem Himmel und an vielen Informationsständen versuchen die Veranstalter, das Gedankengut der Reformation auf heutige Verhältnisse zu übertragen und Überlegungen anzustellen, wie in unserer global vernetzten, aber religiös zerstrittenen Welt die Zukunft aussehen könnte.

Die spektakulärste Installation dieses Großversuchs der Spiritualisierung einer ganzen Stadt ist der Bunkerberg an der Luther-Eiche, ein begrünter Trümmerhaufen aus den Nachkriegsjahren, aus dem begehbare Stege mit luftdurchlässigen Gitterrostböden als Symbole geistlichen Schwebens waghalsig weit in die Luft vorstoßen. Diese gebaute Einladung zum Abheben ins Ungewisse bleibt den Wittenbergern über das Jubeljahr hinaus erhalten. Und so auch der Luthergarten, ein öffentlicher Park, in dem 300 frisch gepflanzte Bäume aus allen Teilen der Welt - Gemeinden ganz unterschiedlicher Religionen haben die Patenschaft übernommen - das ökumenische Prinzip, das nebenan in vielen Veranstaltungen praktiziert wird, auf ganz kreatürliche Weise versinnbildlichen.

Natürlich dürfen die bildenden Künste in einem Rückblick auf die Wirkung der 95 Thesen nicht fehlen. So zeigt die Stiftung Christliche Kunst Wittenberg aus den ihr vermachten reichen Beständen bis 27. August im Wittenberger Schloss die Ausstellung "Ernst Barlach - Käthe Kollwitz. Über die Grenzen der Existenz". Und im Alten Gefängnis von Wittenberg, in den schon lange verlassenen Zellen, Fluren und im Hof, können die Werke der Ausstellung "Luther und die Avantgarde" bis 17. September ihre widerspenstig aufklärerische Kraft eindrucksvoll entfalten. International bekannte Künstler wie Ai Weiwei, Olafur Eliasson, Ayse Erkmen, Isa Genzken, Ilya Kabakov, Markus Lüpertz, Günter Uecker, Olaf Metzeloder Jonathan Meese haben die von Luthers Thesen ableitbaren Freiheits-Gedanken am Ort der Unfreiheit mit Objekten und Installationen bildnerisch zu beleben oder zu widerlegen versucht.

Luther kommt dabei als historische Person nicht vor. Und er spielt auch in der großen Sonderausstellung der Luthergedenkstätten im Augusteum und im Lutherhaus, der dritten der Nationalen Sonderausstellungen zum Reformationsjubiläum, nur indirekt ein Rolle. Unter dem Titel "Luther! 95 Schätze - 95 Menschen" hat ein Team von Historikern, Wissenschaftlern und Theologen als Einstieg die weltlichen und geistlichen Voraussetzungen für Luthers Thesenanschlag mit sprechenden Objekten vor Augen geführt. Der deutlich umfangreichere zweite Teil ist dann ganz der ungeheuer breiten Wirkungsgeschichte von Luthers Werk in den Künsten, in den Wissenschaften, in der Politik und im privaten Dasein der Menschen gewidmet.

Die Wirkung von oder Ähnlichkeit mit Luther - sie reicht von Brahms bis Edward Snowden

Die bunte Reihe der Berühmtheiten, die auf Luther direkt oder indirekt reagiert haben, die lediglich von protestantischen Vorstellungen geprägt waren oder auch nur irgendwann im Sinne Luthers gehandelt haben, reicht von Lucas Cranach bis zu Steve Jobs, von William Shakespeare bis zu Karl May, von Goethe bis Lars von Trier, von Caspar David Friedrich bis Sophie Scholl, von Johann Sebastian Bach bis Marcel Duchamp, von Friedrich Nietzsche bis Josef Ratzinger, oder auch von Axel Springer bis zu Julius Streicher, dem fanatischsten Hassprediger der Nazizeit. Streicher hat sich in seinem Juden-Hass gerne auf Luther berufen und während der Nürnberger Prozesse den Satz gesagt: "Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank." Das Objekt, das man ihm zugeordnet hat, ist ein antisemitisches Kinderbuch der übelsten Machart, das in seinem Verlag erschienen ist.

Die fatalen Folgen, die Luthers Schriften verschiedentlich auch hatten, werden in der Ausstellung also nicht unterdrückt. Ja, unter den vielen Schriftstellern, Künstlern und Denkern, die in evangelischen Familien aufgewachsen sind oder sich mit protestantischem Gedankengut auseinandergesetzt haben, gibt es nur ganz wenige, die direkte Sympathien für die manchmal polternde Art hatten, mit der Luther auftrat. Aber die Sprachmacht, die Fähigkeit, Geistiges wie Sinnliches in einprägsam wuchtigen Bildern vor das Auge zu heben und komplizierte Zusammenhänge mit wenigen Worten verständlich zu machen oder in Liedern zu poetisieren, wurde von allen Lesern und Nachfolgern bewundert, ja in Einzelfällen direkt nachgeahmt.

Dass Luther, der Lautenspieler, mit seinen Texten und Melodien auf die Musikgeschichte eine enorme Wirkung hatte, könnte man allein schon durch die Aufzählung folgender prominenter Namen deutlich machen: Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Johannes Brahms und der Erzkatholik Max Reger - sie alle haben Luthersche Choräle bearbeitet und in ihr Werk eingebaut.

Um etwas von der widersprüchlichen Vielfalt anzudeuten, in der Luthers Lehre ausgedeutet werden kann, seien zum Schluss drei ganz unterschiedliche Amerikaner einander gegenübergestellt. Edward Snowden, der berühmteste Whistleblower der Welt, ist wegen seiner Veröffentlichung geheimdienstlicher Dokumente immer wieder mit Martin Luther verglichen worden. Sein Asyl in Russland würde also dem Asyl, das Luther nach Kirchenbann und Reichsacht auf der Wartburg erlebt hat, entsprechen. Bei beiden dürfte jedenfalls das Gewissen im Augenblick der Entscheidung eine zentrale Rolle gespielt haben.

Wie stark die in den USA weit verbreitete protestantische Arbeitsethik auf die Arbeiten von Künstlern eingewirkt hat, lässt sich am Beispiel des mehrfachen Documenta-Teilnehmers Bruce Nauman ablesen. In seinen frühen Performances lässt Nauman seinen Körper ewig stur die gleichen Bewegungen wiederholen. Und in der berühmten Videoarbeit "Work" schreit er jedesmal quälend laut das Wort "work" in den Raum, wenn sein kahler Schädel auf den beiden Bildschirmen nach vorne knallt.

Schließlich Martin Luther King: Als der schwarze Bürgerrechtler am 19. Juli 1966 seine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit an die Rathaustür von Chicago heftete (unser Bild), kannte er Luthers Thesen nur ungenau - doch gestisch und symbolisch war seine Handlung ganz auf das wirkungsmächtige historische Vorbild bezogen.

Luther! 95 Schätze - 95 Menschen , im Augusteum am Lutherhaus in Wittenberg, bis 5. November. Der mächtige Katalog, der die Wirkung von Luthers Werk thesenhaft klar zusammenfasst, ist im Hirmer Verlag erschienen. Info: www.martinluther.de

© SZ vom 24.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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