Literaturgeschichte:Seltsame Fälle

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Raserei, Wahn, Trübsinn - diese Rätsel der Seele faszinierten die Aufklärer. Eine Anthologie versammelt nun die berühmtesten Fälle.

Von Lothar Müller

Es stimmt schon: Die Aufklärer sprachen viel vom Licht der Vernunft. Sie hatten aber gerade deshalb ein geradezu leidenschaftliches Verhältnis zum Dunklen und Rätselhaften. Sie wollten wissen, warum einer beim Reden ins Stocken gerät, seinen eigenen Namen vergisst, wenn er ihn nur oft genug schreibt, aus heiterer Stimmung heraus plötzlich in tiefste Trübsal oder gar Raserei verfällt.

Das "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde", das von 1783 bis 1793 in Berlin erschien, begründet und herausgegeben von Karl Philipp Moritz, war ein Großprojekt der Berliner Spätaufklärung. Philosophen wie Moses Mendelssohn, Ärzte wie Marcus Herz, der bei Kant in Königsberg studiert hatte, Schuldirektoren und Pfarrer, Professoren für Rhetorik und Juristen schickten von nah und fern Geschichten über religiöse Schwärmer und Selbstmörder ein, Selbstbeobachtungen über das Vergessen und Erinnern im Alltag, über einen gestandenen Landpfarrer, der "eine wahnwitzige Passionspredigt" hält, oder einen jungen Predigtamtskandidaten, der plötzlich im Wahn seinen Vater tötet.

Zweimal ist in den letzten Jahrzehnten das "Magazin" nachgedruckt worden, als Quelle für jenes Wechselspiel von Literatur und Anthropologie, von dem der "Anton Reiser" Zeugnis ablegt, der aus der Selbstbeobachtung geschöpfte "psychologische Roman" von Karl Philipp Moritz. Jetzt ist erstmals eine wissenschaftlich kommentierte Anthologie von Fällen aus dem "Magazin" erschienen, die bei den Zeitgenossen Aufsehen erregten und in Lehrbücher des 19. Jahrhunderts eingingen. Die Chiffren der Einsender werden entschlüsselt, ihre Biografien mitgeteilt, die Institutionen kenntlich gemacht, für die sie arbeiten, erwähnte Briefpartner und Lektüren identifiziert. Man liest von den apokalyptischen Fantasien junger Theologiestudenten und ist durch den Verfasser Ludwig Albert Schubart, Sohn des auf dem Hohenasperg inhaftierten Dichters Schubart, plötzlich im Freundeskreis des jungen Schiller. Oder, im Beitrag des Philosophen und Mathematikers Lazarus Bendavid "Sonderbare Art des Trübsinnes" in den Innenwelten der jüdischen Aufklärung, ihrem Verhältnis zur Orthodoxie und zu den Ostjuden. Die Anthologie ist eine Fundgrube für jeden, der sich für den Alltag der Aufklärung interessiert.

Stefan Goldmann (Hrsg.): Berühmte Fälle aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Eine Anthologie. Psychosozial Verlag, Gießen 2015. 241 Seiten, 24,90 Euro.

© SZ vom 25.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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