Literaturgeschichte:Seine Zeit

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Thomas Mann vor einem Tonfilmapparat: Diese Aufnahme erschien 1929 im Berliner Magazin "Tempo", für das Manns Tochter Erika schrieb. (Foto: Ullstein Bild)

Der Hörbuch-Verlag präsentiert in einer umfassenden Edition Thomas Manns Schallplatten- und Tonbandaufnahmen, Rundfunklesungen und Radioansprachen.

Von Gustav Seibt

Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte erst der "Felix Krull" die Versöhnung zwischen Thomas Mann und den Deutschen. Dass der Dichter nicht sofort aus dem Exil in ihr verheertes Land hatte zurückkehren wollen, hatten sie ihm übel genommen. Die Reden zum Goethe-Geburtstag 1949 in Frankfurt und Weimar wurden mit verehrungsvollem Respekt aufgenommen, aber im Westen wurde der Abstecher in den Osten auch heftig kritisiert. Dann aber kamen 1954 die Bekenntnisse des Hochstaplers aus der guten alten Zeit, scheinbar direkt aus der Welt von gestern. Und Thomas Mann trat mit seinem Schelmenroman an vielen Orten in Deutschland leibhaftig auf, in Theatern, bei Universitäten, die Radiostationen sendeten diese Lesungen, bald wurden Schallplatten davon zu Lieblingsstücken in den neu eingerichteten bürgerlichen Wohnzimmern der Fünfzigerjahre.

Einvernehmlich lachte man, wenn der junggebliebene alte Komödiant mit knarrender Stimme einen preußischen Musterungsarzt imitierte: "Das is ein Einjährijer!" Oder wenn er Krulls preziöse Umschreibung des Bankrotts seines Vaters, eines Schaumweinfabrikanten, vortrug: Der Ruin habe "mit hartem Knöchel an die Tür gepocht". Köstlich auch die Parodie des französischen Gesprächs mit dem Zugschaffner auf der Reise nach Paris: "Bonsoir, Monsieur le Commissaire" mit überlangem End-ääähr.

Die späte Rede "Meine Zeit" warnt schon vor dem Atomkrieg

Professor Kuckuck erst, der Paläontologe im Nachtzug nach Lissabon, beim Erklären der Evolution! Den Dialog über die riesenhaften, aber dummen Dinosaurier konnten bald viele auswendig: Die Riesenechsen seien "also wohl nicht sehr sündig trotz so vielem Fleisch?", fragt Krull (als Marquis de Venosta). "Aus Dummheit wohl nicht", erwidert Kuckuck, und die Zuhörer im Parkett brummten wohlgefällig. Im Wohnzimmer war das eine besonders oft gespielte Stelle.

Es ist ein großes Glück, all das jetzt in einer reichhaltigen Sammlung wiederhören zu können, samt den Geräuschen aus dem Publikum, begleitet von einer kundigen biografischen Beigabe des Germanisten Hermann Kurzke. Der "Krull" und sein Erfolg ist das letzte Kapitel der quälerischen Geschichte "Thomas Mann und die Deutschen". Aber die Umgebung der vielen anderen Aufnahmen der gesammelten Hörwerke macht nun auch die Abgründe dieses glücklichen Endes spürbar.

So wird "Professor Mann" in seiner Heimatstadt Lübeck beim letzten Besuch 1955 von einem jungen Radiojournalisten interviewt, in einem merkwürdigen Ton halb devoter, halb aufdringlicher Schmierigkeit. Wie er Deutschland denn nun finde, ob er es wiedererkenne? Thomas Mann, frei sprechend, mit fast tickhaftem "nicht wahr?" im Redefluss, erklärt, er finde das Land trotz seiner Zerstörungen im Wesentlichen unverändert, nicht zuletzt die Stadtcharaktere; so seien die Münchner eben immer noch Münchner, ebenso wie die Dresdner Dresdner blieben, "trotzdem wie es da jetzt aussieht".

Dass die Feststellung der Unverändertheit nach solcher Schreckenszeit etwas ambivalent sein könnte, entgeht dem Reporter. Zu Lübeck seufzt er, ein einziges Mal dem großen Mann widersprechend: "Das Schönste ist ja hin!" Und er meint die sieben Türme der Hansestadt, die Stadtsilhouette, die damals noch nicht wiederhergestellt war, In diesem "Das Schönste ist ja hin", halb nonchalant, halb selbstmitleidig, mit stillem Vorwurf, ist der Geist der Fünfzigerjahre so präzise verdichtet, dass man sich fragt, ob der Dichter es in diesem Augenblick begriffen hat - war es gar eine Anspielung auf die schockierende Ansprache, die Thomas Mann in seiner Reihe "Deutsche Hörer!" nach der Bombardierung Lübecks am 29. März 1942 in Radio London gehalten hatte und in der er erklärte, er habe "nichts einzuwenden" gegen die Zerstörung seiner Vaterstadt, wenn er an Coventry denke? Auch diese Reden sind in dieser Edition enthalten.

Und sie zeigen nicht nur den "Wanderredner der Demokratie", als den er sich später selbstironisch bezeichnete, sondern vor allem den harten, kompromisslosen Kämpfer. Da gibt es keine Ironie, keine Herablassung von einem höheren kulturellen Gesichtspunkt aus, kein vornehmes kulturkritisches Abwägen, das dem Überfeinerten vorher und nachher zu Gebote stand. Nein, hier "kämpft er im Staub", so wie sein Bruder Heinrich es 1910 über Voltaire schrieb, was Thomas ihm im Zwist von 1915 noch übel genommen hatte. "Deutsche Hörer!" - diese Reihe von Radioansprachen ist die endgültige Rücknahme der "Betrachtungen eines Unpolitischen". Die CD-Ausgabe hat zwischen die einzelnen Ansprachen kurze Tonbeispiele des Feindes, der Nazi-Größen, eingefügt, man hört Goebbels, Göring, Hitler und andere - und das Drama packt sofort, denn ja: Thomas Manns Willensenergie ist dem Gewaltgebrüll gewachsen. Ein Weltkampf.

Sein Französisch klingt sehr viel besser als sein Englisch

Direkt vor diesen Kampfreden kann man das früheste Dokument hören, das den Dichter noch als Sprecher im "Reichsrundfunk" hören lässt, wie er 1932 über die Entstehung der "Buddenbrooks" plaudert, unter dem Goethe'schen Titel "Aus meinem Leben". Es geht um Dichtung und Wahrheit, um die realen Hintergründe des Jugendwerks im alten patrizischen Lübeck, ein Thema, das der Geburtstagsvortrag "Meine Zeit" von 1950 noch einmal beeindruckend aufgreift. 1932 kann Thomas Mann sich gerade noch auf Josef Nadlers völkisch-landschaftliche Literaturgeschichte berufen, zugleich aber den ersten wohlwollenden Rezensenten seines Buches erwähnten, den Juden Samuel Lublinski. Ein halbes Jahr später, als Nadler zu den Nazis übergelaufen war und kein Jude mehr vorkommen durfte, wäre das nicht mehr möglich gewesen.

Thomas Mann hat sprechen, lesen und schreiben gelernt in der Bismarck-Zeit, und seine Sprache, ihre säuberliche Ordnung, der idealische Schwung, zu dem sie sich beim Vortrag gern erhebt, nämlich wenn die Reden zu Ende gehen, verrät diese hochbürgerliche Herkunft, übrigens auch in mancher altmodischen Aussprache ("S-port"), samt dem Umstand, dass Thomas Manns Französisch so viel besser klingt als sein Englisch. Die späte Rede "Meine Zeit" warnt schon vor dem Atomkrieg, sie bekundet kühn dem Kommunismus moralischen Respekt, nicht ohne zu beklagen, dass die marxistischen Gedankengänge im Kontakt mit dem byzantinischen Erbe Russlands zu einer neuen Kirche der Unterdrückung geworden sind.

So weit spannt sich der historische Bogen in den Formulierungen und Tonfällen dieser immer melodischen, makellos phrasierten, jedes Satzkonstrukt bedachtsam und durchsichtig aufschichtenden Vortragskunst. Ein herrlicher Eindruck, "heerrlich" bitte in der flachen Gedehntheit des Es, die die auffälligste Eigentümlichkeit seiner Stimme ist.

Und was für ein Schauspieler kann Thomas Mann sein! Die Tanzstunde Tonio Krögers lässt seinen Vortrag so wohlgefällig rundlich schwingen wie die fetten Hüften von Ballettmeister Knaack. Fast staunend muss sich die alte Stimme in das Jugendwerk mit seinem Sehnsuchtston erst finden, um dann doch zu entflammen (und gern hört man auch das berühmte Hundegebell im Hintergrund der zu Hause aufgezeichneten Produktion). Kurze Stücke aus den Josephs-Romanen, dem "Erwählten", dem "Doktor Faustus" und dem "Zauberberg runden ein Panorama. Der Auszug aus dem "Erwählten" ist die erste häusliche Aufnahme, zu der Erika Mann den Vater noch in Amerika gedrängt hatte, wo sich nach dem Ende des Kriegs die deutsche Erfindung des Tonbands zu verbreiten begann - Thomas Mann und die neuen Medien, das ist ja vom Grammophon bis zum Kino kein nebensächliches Thema.

Und so ist der Höhepunkt dieser Sammlung die Aufzeichnung der Rundfunksendung, in der Thomas Mann 1953 seine Lieblingsmusik vorstellte. Jünger hört man den alten Mann nie als in diesem ergreifenden Dokument, das mit der Knabenbegeisterung für den "Lohengrin" anhebt und mit dem Lobpreis der dritten Leonoren-Ouvertüre endet. "Verzweifelt deutsch" sei er, hatte er in dem Vortrag "Der Künstler und die Gesellschaft" erklärt, ein winziger wissender Gluckser in der Aufnahme markiert den Abgrund, den er an dieser Stelle überspielt. Selig deutsch aber ist er in seiner Musikliebe, die in das Lob der klassizistischen Humanität von Beethovens Musik mündet. Mehr als schön sei sie, sie sei gut, gut im Vollklang des Wortes vom Soliden und Festen bis zum menschlich Guten.

Thomas Mann: Die große Originalton-Edition. Der Hörverlag, München 2015. 17 CD, Gesamtlaufzeit 17 Stunden, 10 Minuten. 49,99 Euro.

© SZ vom 18.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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