Literaturfest:Helft Europa!

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Jenny Erpenbeck und die "Fokn Bois" aus Ghana

Von Antje Weber

Die Zuhörer drängen sich in der rappelvollen Milla, viele müssen stehen oder gar auf dem Steinboden kauern. Ja, es ist ein unbequemer Literaturfest-Abend, auch inhaltlich. Zwar ist leider aus Gesundheitsgründen die in Paris lebende Inderin Shumona Sinha nicht gekommen, von der sich die hörbar enttäuschten Zuhörer zu Recht eine provozierendere Diskussion über das Thema Flüchtlinge erhofft hatten. Doch trotz ihrer Abwesenheit gelten die interessantesten Momente dieses Abends, bei dem nun Kurator Albert Ostermaier neben der Berliner Autorin Jenny Erpenbeck Platz nimmt, Sinhas Roman.

"Erschlagt die Armen!", heißt dieses Werk herausfordernd, und die Ausschnitte, die Aglaia Szyszkowitz vorliest, lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In bildreicher Sprache erzählt Sinha von den "Märchen der menschlichen Zugvögel", den Lügengeschichten, die Asylsuchende den Entscheidern vortragen. Die "albtraumhaft" verwirrte Mittlerin dazwischen ist die Dolmetscherin, die Stunden "ernsthafter Komik" erlebt, in denen auch Hass in ihr aufsteigt. Shumona Sinha schreibt, wie wäre es anders möglich, aus eigener Erfahrung. Sie hat selbst für Bangladescher übersetzt, die sich als Christen ausgaben, ohne jemals von Weihnachten gehört zu haben. Und sie hat ihren Job nach Veröffentlichung ihrer als Tabubruch begriffenen Abrechnung prompt verloren.

"Ein wirklich dolles Buch", sagt dagegen Jenny Erpenbeck anerkennend, die mit "Gehen ging gegangen" selbst einen Bestseller zum Thema der Stunde geschrieben hat; sie hat sich in unzähligen Gesprächen asylsuchenden Männern in Berlin angenähert. Ihr Vorteil? "Dass von mir nichts abhängt." Da sie keine Macht habe, gehe sie davon aus, dass die Männer - mit denen sie heute befreundet ist - ihr die Wahrheit erzählt haben. Wobei sie die verzweifelten Märchenerzähler nicht verurteilt: "Jeder von uns würde genauso lügen."

Aber wie sollen Staaten denn nun entscheiden, wer bleiben darf und wer nicht? Damit stellt Moderatorin Judith Heitkamp eine der schwierigsten Fragen unserer Zeit. Ostermaier verweist einmal mehr darauf, dass Deutschland im Vergleich zu einem Land wie Libanon noch Kapazitäten habe und überhaupt schon immer ein Land von Einwanderern war. Erpenbeck ergänzt: "Wir sind nicht nur ein Volk von Ein-, sondern auch von Auswanderern!" Und: "Wir können uns eben nicht alles aussuchen." Aussuchen kann man sich allerdings, wie man reagiert. Erpenbeck selbst erzählt, nach Hilfsmöglichkeiten gefragt, dass sie zum Beispiel eine Vormundschaft für einen minderjährigen unbegleiteten Flüchtling übernommen habe.

Zum Thema Hilfe haben anschließend auch die Fokn Bois einiges beizutragen. Das lässige Duo aus Ghana, von Ostermaier als "wilde Truppe" angekündigt, ist zwar gar nicht so wild. Musikalisch wirken die Gitarren-Balladen mit schlichten Refrains im Gegenteil ziemlich ruhig und repetitiv. Die Texte, die Wanlov the Kubolor und M3nsa breit lächelnd präsentieren, sind mitunter jedoch explosiv. Die beiden erzählen vom Imam, der einen "Blowjob" anzubieten hat: "You are the bomb." Sie fordern in ihrem Song "Help America" ironisch dazu auf, den armen Vereinigten Staaten zu helfen, da dort die Menschen auf den Straßen Hunger litten. Auch Europa müsse man helfen, lieben und teilen zu lernen. Selbst bitten die Fokn Bois erst einmal um ein Bier von der Bar. Als sie das bekommen, fordern sie schön frech auch noch Essen, Huhn wäre recht. Da haben sie allerdings Pech - die Großzügigkeit von uns Europäern sollte man schließlich nicht überstrapazieren.

© SZ vom 26.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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