Literaturfest:"Alle Erinnerungen kommen hoch"

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Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev, Autorin des Bestsellers "Schmerz", im Gespräch über den Alltag mit dem Terror in Jerusalem, über ihre Angst und das Schreiben

interview Von Eva-Elisabeth Fischer

Eine Hotel-Lobby in der Münchner Innenstadt. Dort bearbeitet die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev nervös ihr Handy: "Ich muss noch meine Mails checken, sehen, ob was passiert ist. Es vergeht kein Tag in Jerusalem ohne einen Terroranschlag", sagt sie. Shalev ist für drei Tage beim Literaturfest in München und kommt nicht zur Ruhe. Die sogenannte Messer-Intifada, bei der speziell in Jerusalem, wo sie mit ihrer Familie lebt, wahllos Menschen niedergestochen werden, ist für sie Teil ihres Alltags. Mit den Anschlägen ist die Angst zurückgekehrt. Ein Gespräch mit der Autorin, deren Romane "Liebesleben" und nun auch "Schmerz" (Berlin Verlag) zu Bestsellern wurden.

SZ: Gehen Sie noch auf die Straße?

Zeruya Shalev: Ich gehe nur aus, wenn es absolut notwendig ist. Ich habe Pfefferspray dabei, um mich und meinen Sohn zu beschützen. Ich muss zugeben, dass ich wieder Angst habe.

Fühlen Sie sich sicher, wenn Sie reisen?

Ich empfinde es als Paradox, dass Israel gegründet wurde, um die Juden zu schützen, ich mich aber in den vergangenen zehn Jahren in Europa viel sicherer gefühlt habe als in Israel. Nach den Anschlägen in Paris fühle ich mich in Europa nicht mehr ganz so sicher. Aber das ist nicht mit der konstanten Angst in Jerusalem vergleichbar.

Können Sie in Israel nicht temporär woanders unterschlüpfen?

Es ist dumm, zu versuchen, einen sicheren Ort in Israel zu finden, weil man nie weiß, was am nächsten Tag passieren wird. Während des letzten Gaza-Krieges im Sommer 2014 war der Süden des Landes unter Beschuss. Jerusalem war zu der Zeit relativ sicher, es gab keine Raketen. Vor etlichen Jahren, während des Libanon-Krieges, war der Norden sehr gefährdet. So traurig es ist, man kann nicht von einem Ort zum anderen ziehen, um in Israel in Sicherheit zu sein.

Geben Sie Ihrem neunjährigen Sohn Verhaltensregeln mit auf den Weg, wenn er ausgeht?

Natürlich. Er darf nicht alleine ausgehen, er darf nicht Bus fahren, was ich übrigens auch meinem älteren Sohn, der gerade beim Militär ist, verboten habe. Meine Tochter lebt in Tel Aviv. Vor Kurzem wurden zwei Leute im Süden Tel Avivs erstochen. Also trägt meine Tochter - ein ziemlicher Spaßvogel - ihr Pfefferspray immer bei sich - in ihrem Büstenhalter. Eigentlich ist das nicht komisch. Es ist furchtbar.

Obgleich die Sicherheitskräfte, wie hier in Ostjerusalem, überall präsent sind, können sie die Messerattacken junger Palästinenser nicht verhindern. (Foto: AFP)

Was macht das mit Ihnen?

Vor ein paar Tagen musste ich ins Zentrum von Jerusalem. An diesem 23. November hat es vier Messerattacken gegeben, eine ganz mittendrin, am Mahane Yehuda Markt. Es war schon fast dunkel und es hat mich nur noch so geschüttelt. Ich bin gelaufen, um etwas abzuholen, habe mir dann sofort ein Taxi geschnappt, um nach Hause zu kommen. Die Tatsache, dass es einfach jeden treffen könnte, rief bei mir das Gefühl hervor, als ob es gerade jetzt passierte. Allein dieses Gefühl erlebt zu haben, ist erniedrigend. Und das geht jetzt so jeden Tag seit gut zwei Monaten.

Sie waren selbst vor elf Jahren Opfer eines Selbstmordanschlags. Ich nehme an, Sie haben die Angst von damals verarbeitet. Kommt sie jetzt wieder hoch?

Genau das passiert jetzt mit mir. Der Anschlag auf einen Bus, bei dem ich verletzt wurde, war glücklicherweise einer der letzten großen Attentate der Zweiten Intifada. Ich bin nicht in dem Bus dringewesen, sondern kam zufällig auf dem Fußgängerweg vorbei. Die Tatsache, dass Jerusalem danach wieder sicherer war, half mir, mich davon zu erholen. Seitdem es vor zwei Monaten wieder losging - und da spielt es keine Rolle, ob es ein Messer oder eine Bombe ist - ist die Angst wieder da, auch das Gefühl der Bedrohung, alle Erinnerungen kommen hoch.

Nehmen Sie psychologische Hilfe in Anspruch?

Jetzt nicht. Nach dem Anschlag schon. Ich ging ein halbes Jahr zu einem Psychotherapeuten. Er war übrigens Deutscher und arbeitete in dem Krankenhaus, wo ich operiert wurde - ein Knie war ja völlig zertrümmert, eine Hand verletzt und das Gesicht getroffen. Nachdem ich entlassen war, betreute er mich bei mir zu Hause.

Ist Schreiben auch Therapie?

Ganz und gar nicht, denn ich kann nicht schreiben, wenn es mir nicht gut geht, ich keine Kraft und keine Kontrolle über mich habe. Deshalb konnte ich nach meiner Verletzung kein Wort schreiben und fürchtete, vielleicht nie mehr schreiben zu können. Mit meiner Gesundung kam die Leidenschaft fürs Schreiben zurück, als wäre sie nie weg gewesen. Ich bin sehr von meiner Inspiration abhängig. Natürlich handelt es sich um meine Arbeit, Schreiben ist mein Beruf und auch meine Bestimmung, aber ich muss inspiriert sein.

Erst einmal: Woher kommt Ihre Inspiration - von innen oder von außen? Und warum haben Sie so lange - neun Jahre - gewartet, den Roman um eine Frau zu schreiben, die wie Sie einen Anschlag überlebt hat?

Das ist gegen meinen Willen geschehen.

Also hat sie sich gemeldet und gesagt: Ich bin auch noch da?

Genauso war es. Ich wollte nicht darüber schreiben. Jahre vergingen, und als ich anfing, über "Schmerz" nachzudenken und die Geschichte, dass sich zwei Liebende nach langer Zeit wiedertreffen, hatte ich den ganzen Plot im Kopf, ohne auch nur im geringsten an den Terroranschlag zu denken. Ich dachte lediglich an einen bestimmten Schmerz, an dem Iris, meine Hauptfigur, leiden sollte. Als ich anfing zu schreiben - meine Inspiration kommt aus meinem Inneren - sprudelten die Sätze nur so aus mir heraus und zwangen mich, sie aufzuschreiben. Ich konnte mich nicht dagegen wehren und ich erkannte, dass Iris diese Erfahrung mit mir teilen wird, obgleich ihre Erfahrung natürlich eine andere ist.

Die Autorin Zeruya Shalev lebt in Jerusalem. Dort wurde sie 2004 Opfer eines Selbstmordattentats, Thema ihres neuen Romans. (Foto: AFP)

Inwiefern?

Ihre Lebenssituation, ihre Biografie ist ganz anders als meine. Auch ihre Verletzungen und damit ihre Leiden sind viel schlimmer. Sie mussten schlimmer sein, um ihr schweres Trauma zu rechtfertigen. Für sie und ihre Familie ist es eine viel größere Katastrophe als damals für mich, ein viel einschneidenderes Ereignis.

Für Sie war es aber auch kein Honigschlecken.

Aber Iris leidet viel mehr. Sie verliert völlig die Kontrolle. Ich habe versucht, mich zu beherrschen, nicht vor den Kindern zu weinen. Sie haben sich zu mir gelegt, und ich habe ihnen bei den Hausaufgaben geholfen: Mit meinem großen Sohn, der damals acht war, konnte ich zwar nicht Fußball spielen, aber eine Art Handball. Ich konnte nicht als Schriftstellerin funktionieren und auch nicht als Ehefrau, aber obgleich das wahnsinnige Kraft kostete, versuchte ich, als Mutter zu funktionieren. Ich glaube, deshalb haben meine Kinder keinen ernsthaften Schaden genommen. Iris ist eine tragische Figur, sie ist von der israelischen Realität geschlagen. Sie durchlebte drei Traumata - zunächst den Verlust des Vaters im Krieg, als sie ganz klein war; dann mit 17, 18 Jahren den Verlust von Eitan, ihrer ersten Liebe, und schließlich mit dem Terroranschlag den Verlust ihrer körperlichen Gesundheit.

Es sind ja zweierlei Schmerzen, die sie durchmacht, die seelischen und die körperlichen . Irgendwann kann man sie nicht mehr auseinanderhalten.

Und sie vergrößern den jeweils anderen, steigern ihn ins Extreme.

Glaubt sie, dass Eitan ihre Seele heilen könnte, als sie ihn wiedertrifft?

Ja, es war offenbar ihre größte Hoffnung, von dem, der sie einst verletzt hatte, geheilt zu werden. Das ist ebenso absurd wie die Hoffnung, dass der Selbstmordbomber deine Wunden heilen könnte. Zwischen beiden Traumata gibt es eine Parallele. Erst ganz zum Schluss erkennt Iris, dass das nicht funktionieren kann, auch wenn sie in irgendeiner Weise geheilt ist, aber nicht durch Eitan.

Warum schreiben Sie immer über die Liebe, über die Familie als Mikrokosmos der menschlichen Gesellschaft?

Ich bin sehr isoliert aufgewachsen in einer College-Stadt bei Kfar Saba. Da musste ich viele Geschichten erfinden, um mich zu unterhalten.

Sie haben Bibelwissenschaften studiert. In der Bibel stehen die besten Geschichten. Haben Sie deshalb zu schreiben angefangen oder wegen der Familientradition?

Ich glaube, es ist eine Mischung aus beiden. Erst einmal war es die Familientradition. Wir waren nicht religiös, aber ich bin mit den biblischen Geschichten aufgewachsen. Mein Vater hat sie immer vorgelesen. Das ist meine schönste Kindheitserinnerung. Als ich erwachsen wurde, hatte ich stets das Gefühl, dass die Bibel offen für mich ist. Sie ist eine großartige Inspirationsquelle. Und es ist tröstlich zu wissen, dass alle Geschichten bereits geschrieben sind. Jedes Mal, wenn ich eine neue Geschichte schreibe, fühle ich darin die Präsenz der uralten Geschichte. Ich liebe diesen Nachhall. Es ist doch faszinierend, dass das alles schon vor 3000 Jahren da war. Es hat sich so viel verändert seitdem, aber in unserer Gefühlswelt sind wir nahezu gleich geblieben.

© SZ vom 07.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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