Literatur und Unterhaltung:Mehr Wumms

Immer weniger Bücher erlangen einen immer größeren Kultstatus. Was angesagt ist, diktiert die Gesellschaft - und man hat sich bei Strafe völliger Uncoolness gefälligst damit zu beschäftigen.

Martin Hielscher

Der Autor ist Programmleiter für Literatur beim C. H. Beck Verlag in München und Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Bamberg. Der hier gekürzt veröffentlichte Text wird in ganzer Länge in dem Band "Keine Lust auf Untergang. Gegen eine Trivialisierung der Gesellschaft", herausgegeben von Thomas Kraft und Norbert Niemann, erscheinen.

Landeshauptarchiv Mecklenburg-Vorpommern

Der Umgang mit Literatur hat sich verändert: während einige wenige Bücher auf enorme Resonanz stoßen, wird der Großteil nicht einmal wahrgenommen. 

(Foto: dpa)

Die Erwartungen an das, was wir Literatur zu nennen gewohnt waren, verschieben sich, und einige Veränderungen erscheinen mittlerweile als ebenso unaufhaltsam wie irreversibel:

Dazu gehört eine medial vermittelte, immer weiter fortschreitende Konzentration und Verengung auf immer weniger Titel, die dann in einer Art self-fulfilling prophecy unentwegt so lange behandelt werden, bis sie zur Strafe anschließend niemand mehr ertragen kann und sie wieder in völlige Vergessenheit geraten (alle schreiben über das, über das alle schreiben) - was für die Aufregungsthemen der Medienwelt generell gilt - gestern die Schweinegrippe, heute die Aschewolke, gestern Robert Enke, heute der Missbrauch durch katholische Priester.

Das andere: Die Reizdosis muss dauernd erhöht werden, der impact, die Wucht, der sensuelle Einschlag, eine Art Umhüllung durch Dauerstimulation.

So erkläre ich mir den erstaunlichen Erfolg einiger "fat books", Romane wie "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace oder das gleichzeitig erschienene Buch "2666" von Roberto Bolaño.

Wenn man im Feuilleton einen Wettbewerb auslobte, welches Buch wohl erfolgreicher sein werde und auch noch beide Verleger bäte, in einem Zehn-Punkte-Programm zu erklären, warum ihr Roman unbedingt gelesen werden müsse, dann würde für alle offensichtlich, wie agonale Prinzipien, die aus Casting-Shows bekannt sind, auf die Literaturkritik übertragen und Strategien einer Literatur-Champions-League eingesetzt werden - also Germany's Next Top Novel. Das ist alles irgendwie verständlich, lustig, marktkonform und auf kleiner Flamme würdig und recht. Zugleich markiert es ein Ende.

Denn man hat nicht das Gefühl, dass eine Art höherer Intelligenz diese Werke ausgewählt und noch dazu für eine zeitliche Koinzidenz gesorgt hat, es ist eine Art Diskursmaschine, die definiert hat, dass dies nun gerade die angesagten Werke sind und man bei Strafe völliger Uncoolness sich gefälligst damit zu beschäftigen habe und zwar gleichzeitig mit allen anderen, die ebenfalls gerade lesen, bloggen, moderieren und rezensieren, und dass man keinesfalls etwas anderes ebenfalls wichtig finden darf.

Ein Prozess kultureller Kollektiv-Verdauung

Ich glaube, dass das Auftauchen fetter Bücher in Zeiten der Häppchenkultur in der Literatur wie im Sachbuch - und gibt es in der Bildenden Kunst, der Musik, der Architektur, dem Theater nicht ebenfalls den Hang zum exzessiven Mammutwerk? - nicht eine Art Gegensteuern, das Innehalten, den Wunsch nach Vertiefung, nach Bildung, Langsamkeit, Durchatmen, Wiederholen und Durcharbeiten bedeutet, sondern dass diese Mammutbücher eben eine größere Einschlagsdichte verkörpern, mehr Wumms, mehr 3D, mehr HD, mehr Entertainment.

Dabei geht es mir nicht um die Frage, ob diese Werke zu Recht die große Aufmerksamkeit verdienen, die sie erhalten haben - nur ganz wenige derer, die sich an dem Diskurs darüber beteiligt haben, können das überhaupt noch beurteilen, weil sie literarisch oft überhaupt nicht hinreichend gebildet sind - , sondern um den Mechanismus, der diese Diskurse und die Massenaufmerksamkeit ermöglicht.

Man kann sich freuen, dass so schwierige Werke auf diesem Wege überhaupt derart viel Beachtung finden und in Relation unglaubliche Verkaufszahlen erreichen, und vielleicht ist tatsächlich irgendetwas daran gut. Beide Autoren - ein Zufall? - sind tot, haben diesen großen internationalen Erfolg ihrer Mega-Romane gar nicht miterlebt.

Es ist die aberwitzige Geschwindigkeit und Dichte, mit der diese Produkte ausgewählt, lanciert, behandelt, in einer Art medialem Dauerfeuer befaselt und anschließend umso nachhaltiger wieder vergessen werden, die einen, je länger dieser Prozess kultureller Kollektiv-Verdauung andauert, umso irritierter stimmt.

Bloggen, Mailen, Twittern, Moderieren

Es ist eben die Universalität einer Kultur der Erregung, der mythischen Teilhabe, eines kollektiven, halb bewussten, halb berauschten Rituals der Anbetung, das sich immer neue Objekte, immer neue Fetische sucht und sie findet, sie aber auch in immer größerer Eile austauschen muss, weil sie so schnell verzehrt sind. Es ist klar, dass von den Käufern dieser fetten Bücher nur ein Bruchteil sie tatsächlich liest, wenigstens auszugsweise. Auch das macht den Fetischcharakter, das archaische Ritual an diesem Teil der Ereigniskultur deutlich, die Suche nach Erlebniswelten.

Zur Kultur der Erregung gehört auch die ungeheure Vergesslichkeit. Autoren, die noch vor ein paar Jahren gefeiert wurden, sind heute unbekannt. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Werke eben gar nicht gelesen werden müssen und sowieso oft nicht gelesen werden können, weil allein das Bloggen, Mailen, Twittern, Moderieren, das Meinen und Meinungen-Absondern so viel Zeit kosten.

Weil aber eine wirkliche Beziehung zu diesen Büchern nicht entstehen kann, weil man wirkliche Bekanntschaft mit ihnen und einem dazu gehörigen Kontext nicht gemacht hat - das kostet zu viel Zeit, ist zu langsam, bedeutet Absonderung, Einsamkeit, Stille -, sind sie ganz schnell wieder vergessen, weg, ausgelöscht, wie nie dagewesen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Diskurskartelle entstehen und wie sich diese auf die Wahrnehmung von Kultur auswirken.

Die Leute wollen Instant-Genuss

Man muss sich natürlich in diesem Zusammenhang fragen, warum es überhaupt für "anspruchsvolle Literatur", "Hochliteratur" oder wie man das nennen will, noch ein nennenswertes Publikum gibt?

Man kann ja umgekehrt festhalten, dass die mehr als eine Million Menschen, die beispielsweise Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" zumindest gekauft haben - was auch immer der Grund dafür gewesen ist -, damit markiert haben, dass sie auf irgendeine Weise an diesem Teil der Kultur teilhaben wollten, dass es ihnen wichtig erschien, zumindest einen bedeutsamen Roman des Jahres zu erwerben, wenn nicht zu lesen, was im Falle dieses Buches nicht schwierig ist - sicher einer der Gründe für seinen Erfolg.

In dem Bedürfnis nach Teilhabe am kulturellen Feld "Literatur" artikulieren sich Reste der Bildungsgesellschaft, der Wunsch nach "geistiger Zeitgenossenschaft", während die Gegenstände, an denen sich diese Wünsche festmachen, oftmals entweder selbst schon Unterhaltung im Gewande der Literatur sind - gut gemacht, klug arrangiert, technisch durchaus auf der Höhe der Zeit, angenehm genießbar, verdaulich, schmerzfrei - oder als Entertainment inszeniert werden, wie bei Foster Wallace oder Bolaño, so dass Veranstaltungen, Ereignisse, Texte, Blogs produziert und Verkäufe generiert werden, kaum aber tatsächlich gelesen wird, weil dafür weder die Zeit in den heutigen Lebensentwürfen, noch die nötigen literarischen Kenntnisse oder überhaupt die Konzentrationsfähigkeit mehr vorhanden sind.

Die Diskurskartelle entstehen - gleichsam hinter dem Rücken der immer durchaus wohlmeinenden, mitunter moralisch völlig integren Teilnehmer - durch ein komplexes Gefüge wirtschaftlicher, kommunikativer und medialer Netzwerke, die letztlich aber immer einem kommerziellen Zweck dienen.

Die neu geschaffenen Literaturpreise - wie der "Preis der Leipziger Buchmesse" und der "Deutsche Buchpreis", die viel für sich haben - sind dabei durchaus ein Teil des kommerziellen und medialen Konzentrationsprozesses und generieren vor allem hohe Umsätze, was, wie gesagt, immanent gedacht, durchaus sinnvoll und nachvollziehbar ist. Gleichzeitig arbeitet die damit einhergehende radikale Blick- und Wahrnehmungsverengung mit an der Abschaffung des eigenen kulturellen Raums. So etwas hat man einmal negative Dialektik genannt.

Die Rückkehr des Spirituellen

Was bedeutet die Universalität der Unterhaltungsindustrie? Sie erklärt sich vor allem aus dem Fehlen des "Anderen", eines Horizontes der Veränderung, der neuen Lebensentwürfe, eines anderen gesellschaftlichen Lebens, eines anderen Systems, eines utopischen Gegenentwurfs.

Das alles ist weitgehend zu Recht spätestens durch die Umstürze des Jahres 1989 und das Ende des "real existierenden Sozialismus" und seiner Systeme diskreditiert und als Denkmodell und in allen sprachlichen Variationen und Schattierungen unmöglich geworden. Was damit den Menschen geraubt worden ist, ist noch gar nicht abzusehen.

Die - ebenfalls hochkommerzialisierte und in Wirklichkeit ähnlich entertainment-nahe - sogenannte Rückkehr der Religionen und des Spirituellen deutet auf die Bedürfnisse und Wünsche nach dem "Anderen", die die Menschen aus der erstickenden Immanenz eines zugleich immer anstrengenderen Lebens, auch des Überlebenskampfes, herausführen könnte. Im Politischen gibt es derzeit keine Instanz oder Gestalt, die auch nur ansatzweise solche Wünsche auf sich ziehen könnte.

Reste davon waren spürbar bei der globalen Euphorie angesichts der Wahl Barack Obamas ins Weiße Haus in den USA. Ob er überhaupt noch eine Chance für eine zweite Amtszeit bekommen wird, ist jetzt schon außerordentlich fraglich.

Der utopische Referenzrahmen ist weggebrochen

Die völlige Immanenz unseres derzeitigen gesellschaftlichen Lebens und die Notwendigkeit, aus dieser Welt zu entfliehen - Eskapismus im guten Sinne, ressentimentfrei gedacht, war immer schon ein Grund für die Entstehung von Kultur -, führen dazu, dass die kulturellen Produkte sich diesen Fluchtwünschen widmen, zugleich aber den Konsumenten nichts mehr "abverlangen" können, weil das nur vermittelbar wäre, wenn diese Anstrengung auch belohnt würde, wenn ihr Schmerz, der Schweiß, der Verzicht auf sofortige Gratifikation einen erkennbaren Nutzen hätte, etwas, das man "mitnehmen" und gebrauchen könnte.

Aber genau das wäre nur möglich, wenn es einen utopischen Referenzrahmen gäbe. Der aber ist weggebrochen.

Das führt dazu, dass zwangsläufig die unmittelbare Belohnung, der Instant-Genuss, der Spaß, die Verständlichkeit, das Gelächter - und natürlich alle Spielarten des Sexuellen - Spannung und Thrill, Horror und Schock (in immer höherer Dosierung) notwendig implementiert werden müssen, um die Leute überhaupt "abzuholen". Unterhaltungsliteratur ist ja ein Produkt, das quasi automatisch gratifiziert wird - die genretypischen Merkmale beinhalten immer die Auflösung, das Ende entlässt den Konsumenten aus dem Fluchtort und der Fluchtlandschaft, und keine Fragen bleiben offen. Das ist zugleich die Parodie der Erlösung.

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