Literatur und EM:Am Spielfeldrand

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Der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint hat ein Fußballbuch ganz eigener Art geschrieben: Autobiografie und teilnehmende Beobachtung in einem, blickt es so leicht, klug und todernst auf dieses Spiel, wie das kaum je zuvor gelungen ist.

Von Christoph Schröder

Eine klassische Toussaint-Szene - luzide, aufgeladen mit Energieströmen, die aus vielen Richtungen zusammenzukommen scheinen: Ein Mann sitzt im Jahr 2014 im Dunkel seines Arbeitszimmers auf Korsika vor dem Computer. Es läuft der Livestream des WM-Halbfinales zwischen Argentinien und den Niederlanden, in dem es zur Entscheidung durch Elfmeterschießen kommt. Die Atmosphäre auf dem Platz ist auf das Höchste angespannt, und draußen auf dem Meer ballen sich bedrohlich die Wolken, Blitze zucken durch die Nacht. Und plötzlich: ein Stromausfall. Das Unwetter tobt über dem Haus, in dem der Mann sich nun sein batteriebetriebenes Transistorradio ans Ohr presst und mit Mühe der italienischen Radioreportage über das Spiel lauscht. Mit dem Ende des Spiels hört auch der Regen auf, "von den Ästen der Bäume tropfte es langsam auf den nassen Asphalt des Platzes."

Ein Minidrama, eine Epiphanie im Rauschen des Regens und der Medien. Und ein Ich, das sich kurz darauf ins Bett legt und seine Gedanken dem Himmel anvertraut. Der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist ein Autor des magischen Augenblicks. Und folglich einer, dessen Schreiben ein stetiger Kampf gegen die gefräßige Zeit bedeutet. Toussaint entwirft Bilder, die in einem engen Beziehungsverhältnis zu den Assoziationen stehen, die sich darüber lagern. Wenn beide miteinander in einer schwebenden Ambivalenz verschmelzen, ergibt das einen Toussaint-Moment.

Fußball, so wie Toussaint ihn betrachtet, bannt die Furcht vor dem Verschwinden

Und wenn Toussaint über Fußball schreibt, dann schreibt er nicht in erster Linie über Fußball, sondern gegen die Todesangst an, gegen das Vergehen der flüchtigen Schönheit, die es festzuhalten gilt, bevor sie für immer verloren ist. Das Spiel wird zum Gefäß, in dem Stimmungen und Erinnerungen aufgehoben sind. Fußball, so wie Toussaint ihn betrachtet, bannt die Furcht vor dem Verschwinden, weil Fußball nicht ausgerichtet ist auf die Zukunft, sondern nur auf den Moment, in dem er sich gerade ereignet, was, in der Ablenkung vom Elend, zu einem "metaphysischen Wohlbefinden" führen kann. Sport als Kontemplation und existenzielles Ereignis.

Jean-Philippe Toussaint: Fußball. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2016. 128 Seiten, 17,90 Euro, E-Book 12,99 Euro. (Foto: FVA)

Der kleine, 2007 erschienene Band "Zidanes Melancholie" von Jean-Philippe Toussaint war eine Reflexion über den schicksalhaften Moment des WM-Endspiels in Berlin, in dem Zinédine Zidane seinen italienischen Gegenspieler Marco Materazzi mit einem Kopfstoß zu Boden schickte. Diese "Geste", wie Toussaint sie nennt, wird von ihm als Verzweiflungsausbruch des Kreativen interpretiert: "Man kennt die intimen Bande, die die Kunst mit der Melancholie verknüpfen. Und unfähig, sich mit einem weiteren Tor zu verewigen, verewigte er sich in unserer Erinnerung."

Nun hat Toussaint die Geschichte seiner Fußball-Sozialisation geschrieben: vom Armbruch auf einem Bolzplatz im Alter von neun Jahren über den Besuch seines ersten Weltmeisterschaftsspiels 1998 bis hin zu dem Tag, an dem er seinen Schreibcomputer erstmals in einen Fernsehbildschirm umfunktionierte, um den Livestream zu verfolgen. Es sind nostalgische Geschichten, die Toussaint erzählt, aus der Sicht des Fans und eines distanzierten Betrachters zugleich. Er gestattet sich bei Spielen der belgischen Nationalmannschaft durchaus das, was er seinen "kindlichen Nationalismus" nennt; einen harmlosen Zustand der "intellektuellen Regression", der vorbei ist, vorbei sein muss, sobald das Spiel abgepfiffen wird.

Gleichzeitig aber sind Toussaints Stadionerlebnisse (das Herzstück des Buches ist die Erzählung einer ausgedehnten Japanreise während der Weltmeisterschaft 2002) auch ästhetische Konfrontationen mit dem Fremden. Die Passagen, in denen der Ich-Erzähler durch die Bars von Kyoto streift, auf dem Bett in seinem Hotelzimmer liegt oder sich in seinem durchsichtigen Regenumhang vom Strom der japanischen Fußballfans in die U-Bahn von Tokio spülen lässt, könnten genauso gut in seinen Romanen wie "Sich lieben" (2002) oder "Fliehen" (2005) stehen; hin und wieder zitiert oder parodiert Toussaint seine eigenen Werke.

"Fußball" ist kein Sportbuch, sondern Literatur, und zwar sehr elegante. Ein Buch, in dem die großen Reflexionen gleichberechtigt neben den scheinbar nebensächlichen und oft auch komischen Beobachtungen stehen - kleinen Vignetten wie beispielsweise der Passage über die Frisuren der Fußballer, die den "Look der kahl geschorenen Kugel" feiert; eine Mode, die "aus bester französischer Tradition stammt, zu der Barthez (der Torhüter) genauso gut gehört wie Foucault (der Philosoph)." Und selbstverständlich auch Toussaint, der barhäuptige Schriftsteller. Zu jeder Sekunde ist er sich dessen bewusst, dass der Sport, über den er schreibt, von der medialen Vermittlung lebt, von der wirkungsvollen Präsentation eines Details im richtigen Augenblick. Es ist die gleiche Technik, derer sich auch der Schriftsteller Toussaint bedient, bis hin zu dem wunderbaren Schlussbild auf Korsika; einem Selbstporträt des Autors in der Dunkelheit des nur vom flackernden Bildschirm erhellten Raumes.

Dieses Buch, so Toussaint in seinem Vorwort, werde niemandem gefallen: Es sei zu intellektuell für Fußballfans und zu fußballlastig für Intellektuelle. Das ist natürlich pure Koketterie. So leicht, klug und todernst wie er schaut sonst kaum einer auf diesen Sport, der so viel mehr ist als ein Spiel.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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