Literatur:Sofja Tolstajas Tagebücher 1862 - 1897

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"Seit ich fühle, dass ich Ljowotschkas Liebe verloren habe, weiß ich, dass ohne diese Liebe für mich das Leben unerträglich ist." 48 Jahre Ehe, Höhen, Tiefen, 13 Kinder und ein trauriges Ende . . .

Von Tim Neshitov

Leo Tolstoj und seine Frau Sofja waren 48 Jahre lang verheiratet. Sie schrieb seine Manuskripte ab, kümmerte sich um die Finanzen, brachte 13 Kinder zur Welt. In ihren Tagebüchern nennt sie den Schriftsteller mal ehrfurchtsvoll Lew Nikolajewitsch, mal leidenschaftlich Ljowotschka. Es war eine turbulente Ehe. 26. August 1882: "Es ist zwanzig Jahre her, dass ich - jung und glücklich, wie ich damals war - dieses Tagebuch mit der Geschichte meiner Liebe zu Ljowotschka begann. Und im Grunde füllt nur sie die Seiten dieses Buchs. Nun aber, zwanzig Jahre später, sitze ich schon die ganze Nacht allein hier, lese alles wieder und beweise meine Liebe. Denn es ist das erste Mal, dass Ljowotschka mich alleine lässt und in seinem Arbeitszimmer schläft. Wegen irgendeiner Nichtigkeit hatten wir Streit bekommen; ich warf ihm vor, dass er die Kinder vernachlässigt und mir weder hilft, den kranken Iljuscha zu pflegen, noch den Kindern Jacken zu nähen. Natürlich geht es nicht um die Jacken, sondern um das Erkalten seiner Gefühle für die Kinder und mich. Mit erregter Stimme schrie er heute plötzlich, es sei sein sehnlichster Wunsch, die Familie zu verlassen. Niemals werde ich diesen unverhüllten Aufschrei vergessen, der mir das Herz zerriss. Ich flehe Gott an, er möge mich sterben lassen; denn seitdem ich fühle, dass ich Ljowotschkas Liebe verloren habe, weiß ich, dass ohne diese Liebe für mich das Leben unerträglich ist." 28 Jahre später verließ Tolstoj tatsächlich seine Familie und starb auf einem entlegenen Bahnhof. Aber wie hatte diese Liebe angefangen! Wie in "Anna Karenina" Lewin und Kitty sich mit den Anfangsbuchstaben der Worte verständigen, so hat Leo Tolstoj einst seine Sofja beeindruckt. Er war 34 und hatte ein unruhiges, ausschweifendes Leben hinter sich, sie war 18 und einfach sehr verliebt. Er schrieb mit Kreide auf einen Kartenspieltisch: "I. J. u. I. V. n. G. e. m. n. a. s. a. m. A. u. m. U. z. G." Und sie las sofort vor: "Ihre Jugend und Ihr Verlangen nach Glück erinnern mich nur allzu sehr an mein Alter und meine Unfähigkeit zum Glück." So steht es in diesem Tagebuch, das nun, nachdem es lange vergriffen war, beim Nostrum-Verlag wieder erschienen ist. In der wunderbaren Übersetzung von Johanna Renate Döring-Smirnov und Rosemarie Tietze.

© SZ vom 24.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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