Literatur & Politik:Straße und Papier

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"Change!" - unter diesem Titel brachte das Literaturhaus Stuttgart Autoren, Künstler und Theatermacher aus Europa und Nordafrika zusammen: sind der Tahrir-Platz in Kairo und der Maidan in Kiew Modelle künftigen Protests?

Von Volker Breidecker

"Maidan" ist ein arabisches Wort, das in gleich mehreren Sprachen einen öffentlichen Platz bezeichnet. War der Maidan at-Tahrir in Kairo einer der Schauplätze des Arabischen Frühlings von 2011, so bildete die Besetzung des Maidan in Kiew im Dezember 2013 den Auftakt zum Euromaidan, der sich auf die Hauptplätze fast aller ukrainischen Provinzen ausdehnenden Revolte gegen ein verhasstes Regime. Auch wenn die Ereignisse zeitlich und geografisch auseinanderliegen, teilen sie Merkmale, die über die bloße symbolische Bedeutung der "Maidane" für die herbeigeführten Regimewechsel hinausgehen. Dazu zählt die exponierte Rolle, die Schriftsteller und Künstler nicht nur auf den Schauplätzen selbst, sondern auch als internationales Gehör suchende Sprachrohre beider Bewegungen einnehmen.

"Auf dem Maidan", so schreibt im Rückblick die junge ukrainische Autorin Kateryna Mishchenko in einem Essay der Anthologie "Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht"(Suhrkamp, Berlin 2014), "verspürten wir eine zerbrechliche Hoffnung auf ein anderes Zusammenleben, auf eine andere Politik, wurden uns aber sogleich ihrer Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit bewusst. (. . .) Der Maidan war aus dem Bedürfnis zu schenken und zu teilen entstanden. In diesen neuen Beziehungsqualitäten lag das Subversive unseres Protests, sein gewaltiges Potential . . . ".

Auf dem Stuttgarter Festival "Change! Über Literatur und Kunst in Protestkulturen Mittelosteuropas und Nordafrikas" bekräftigte Mishchenko ihre Einschätzung: Ja, es gäbe definitiv "einen Geist des Maidans", und trotz des Kriegs im Osten der Ukraine, trotz der Toten und anderer Bitternisse wirke dieser Geist weiter und manifestiere sich in neuen Beziehungen zwischen den Menschen, etwa in der breiten Unterstützung für Flüchtlinge und Binnenmigranten.

Nora Amin aus Ägypten, Autorin und Theatermacherin, saß neben Mishchenko beim Podium zum Thema "Neue kulturelle Räume". Die Frage des Moderators Jörg Armbruster, ob die ukrainischen Erfahrungen einer gesellschaftlichen "Neugeburt" auf dem Maidan auch auf die ägyptische Situation übertragbar seien, bejahte sie klipp und klar. Hingegen bestritt sie die These, derzufolge im Zuge der Rückkehr der alten Mächte alles mühsam Errungene schon wieder verloren sei: Plätze und Räume, die von den Menschen einmal in gemeinschaftlichen Besitz genommen worden seien, ließen sich nicht auf ihre Geografie oder Topografie reduzieren. Die Künstlerin selbst organisiert seit Jahren dezentrale Protestformen in Form theatralischer Darbietungen auf Straßen und Plätzen.

Nora Amin, Theatermacherin aus Ägypten, sieht den Tahrir-Platz als Modell "öffentlicher Workshops"

Ohne Rampenlichter und ohne die Trennung von Bühne und Zuschauerraum eröffneten sich Möglichkeiten der Diskussionen mit und innerhalb des Publikums, woraus so etwas wie "Öffentliche Workshops" mit Aufklärungsfunktion hervorgehen. So einmalig und unwiederholbar die revolutionären Schlüsselereignisse auch gewesen seien, transportieren sie dennoch weiter Erinnerungen und Erfahrungen, deren Wirkungen allenfalls unterbrochen, aber längst nicht stillgestellt sind. In der gerade für Ägypten und die nordafrikanischen Länder geltenden Gewissheit, dass die Mehrheit der Bevölkerung unter 30 Jahre alt ist und die Zukunft auch neuen Geschlechterverhältnissen gehöre, wie sie sich trotz des gegenwärtigen Rollbacks auf dem Tahrir-Platz bereits angebahnt hatten, sollten auch die noch immer nahezu "pharaonischen" Tage männlicher Dominanz und militärischer Hegemonie über die Gesellschaft gezählt sein.

Die Podien zu den Themen Widerstand und Protest, die mit mittelosteuropäischen und nordafrikanischen Stimmen besetzt waren, brachten erstaunlich ähnliche Erfahrungen und zivilgesellschaftliche Lösungsansätze zutage. Das zunächst auf die Regimewechsel und deren Folgen gemünzte Stichwort "Change!" erhielt dabei, von aktuellen Ereignissen buchstäblich eingeholt, eine verstärkte zweite Bedeutung im Sinne des Wechsels von Orten und Identitäten infolge von Vertreibung, Flucht und Exil. Der 1993 aus dem zerfallenen Jugoslawien ausgewanderten kroatischen Schriftstellerin Dubravka Ugrešić erscheint ihre Heimatlosigkeit heute als "großartige Errungenschaft". Im Gespräch bekannte sich György Dalos stolz zu dem Spottnamen seiner xenophoben Landsleute, die ihn einen "Berufsmigranten" nennen. Dalos lebt seit 1987 im Ausland, denkt weiter ungarisch und folgt seinen bereits unter der Diktatur beschrittenen Wegen der ironischen Selbstbehauptung.

Die Vorlagen für seine Folterbilder entnimmt Nikita Kadan russischen Medizinbüchern

Was bleibt, sind auch die über Generationen nachwirkenden Beschädigungen infolge von Gewalterfahrungen und die nicht verblassenden traumatischen Erinnerungen an die Spuren, die Diktatur und Folter auf den Körpern und in den Seelen der Menschen zurückgelassen haben. Für sein Buch "Macht und Widerstand" ist Ilija Trojanow tief in den von stalinistischen Kommissaren und poststalinistischen Bürokraten bewachten Hades der Archive hinabgestiegen. Von ihrer Gewalt über die Menschen zeugt die zur zweiten Realität gewordene wahnhafte Sammelwut ihrer Betreiber. Während Trojanow sich der Wahrheit über ein vorsichtiges Herantasten annähert und es vorzieht, "um den schwarzen Fleck herum" zu schreiben, war seine Gesprächspartnerin Carolin Emcke als Kriegsreporterin dort unterwegs, wo noch gar keine Archive angelegt sind und extreme Gewalt in unmittelbarer Wucht ausgeübt wird. Sie strebt nach der exakten Beschreibung von Gewalt und Folter und weiß sich darin einer literarischen Pflichtethik verbunden.

Mit welch subtiler technischer und klinischer Sachlichkeit Folter ausgeübt werden kann, war auf der Rückwand des Podiums in Gestalt eines doppelten Zyklus von Folterszenen zu sehen, auf goldumrandeten Porzellantellern und auf begleitenden Plakaten: Folterpraktiken, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen, von kalter Professionalität, die mit diabolischem Lächeln sagen will: "Bei mir bist du in guten Händen."

Die Technik der Darstellungen ist dem Vorbild illustrierter russischer Handbücher der Medizin entnommen. Diese verstörenden Darstellungen auf Feiertagsporzellan hatte der Künstler Nikita Kadan in Kiew auf dem Maidan verteilt und angeregt, sie folternden Milizionären zu überreichen. Die Frage, ob diese Arbeiten geeignet seien, auch die Situation in Ägypten zu reflektieren, verneinte Nora Amin freilich kategorisch: Die Realität der Folter sei dort bei Weitem schrecklicher.

Ob der von Nora Amin und ihren ägyptischen Künstlerkollegen - zugegen waren außerdem die Regisseurin Laila Soliman, der Karikaturist Andeel und die Schriftstellerin Sahar el Mougy - auf Bühne, Straße und Papier formulierte Protest unter nach wie vor repressiven politischen Verhältnissen überhaupt möglich sei, wurde gefragt. Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Man muss es einfach tun, denn nur dann weiß man auch, ob etwas geht oder nicht. Ob die Künstler und Intellektuellen dann am Ende, so Friederike Tappe-Hornbostel von der mitveranstaltenden Bundeskulturstiftung in ihrer Begrüßungsrede - "die Ersten sind, die ihr Land verlassen müssen, weil sie zuerst Verfolgung zu spüren bekommen, oder ob sie die Letzten sind, die gehen, weil sie noch etwas in ihrem Land ausrichten wollen" - das ist der Teufelskreis, in dem sie sich bewegen.

Es war von dieser Formel nicht weit zum Thema Flucht und "Flüchtlingskrise". Carolin Emcke zufolge ist sie gar keine solche, sondern eine "Regierungskrise". In dem Maße, wie diese sich demnächst zu einer veritablen europäischen Staatenkrise ausweiten könnte, dürften alternativstaatliche Modelle von der Art der Maidane, wie sie ohne Grenzen und ohne Stacheldrahtzäune auskommen, an neuer Attraktivität gewinnen. Und die Intellektuellen? Dubravka Ugrešić war im Dialog mit dem Ungarn György Dalos wenig optimistisch: Intellektuelle gehörten heute zu einer aussterbenden Spezies. Nur in der Rolle bezahlter Performer könne man ihnen hier und da noch begegnen.

© SZ vom 23.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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