Literatur in den Sechzigern:Kritik und Klüngel

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Die berühmte "Gruppe 47" mit ihren Stars von Grass bis Handke in Princeton. Im politisch heißen Jahr 1966!

Von Thomas Steinfeld

Den "elektrischen Stuhl" nannte die Gruppe 47, der Überlieferung zufolge, den Sessel, auf dem der Schriftsteller saß, dessen Text gemeinsam gehört und beurteilt werden sollte. Die Metapher ist stark, nicht nur, weil sie schief ist: Denn wer darauf saß, wurde nach seiner Lesung lediglich zum Gegenstand eines Verfahrens, dessen Ausgang ungewiss war. Hingerichtet wurde nie, auch wenn die Kritik zuweilen schmerzte. Der Name ist eine Übertreibung, und er ist es umso mehr, als Todesstrafen eine staatliche Gesetzbarkeit unterstellen, mit der Literaturkritik beim besten Willen nicht zu vergleichen ist - auch damals nicht, in den späten Fünfzigern und in den Sechzigern, als Joachim Kaiser, Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens, Hans Mayer oder Reinhard Baumgart noch jung waren und ihre Kritik einer ebenso jungen Literatur den Weg weisen sollte.

Übertreibungen müssen auch die Tagungen der Gruppe 47 gewesen sein, und das gilt vor allem für die vorletzte, die berühmteste Tagung: das Treffen in der amerikanischen Universitätsstadt Princeton im April 1966. Der Berliner Publizist und Literaturkritiker Jörg Magenau hat dieser Tagung nun ein Buch gewidmet, das viel mehr ist als die Geschichte eines Ereignisses. Drei Tage währte diese Veranstaltung, die achtzig deutsche Schriftsteller und Kritiker mitsamt einem ebenfalls nicht kleinen Tross aus Journalisten, Verlegern und Gattinnen an einen Ort führte, wo einige der berühmtesten Emigranten gelebt hatten - Thomas Mann, Ernst Kantorowicz, Kurt Gödel - und an dessen Universität eine der bedeutendsten Abteilungen der damals noch wichtigen amerikanischen Germanistik bestand: Victor Lange, Leiter des "German Department" und ein Fachmann für die deutsche Klassik, hatte die Initiative zu der Tagung ergriffen und einen großen Teil der Finanzierung vermittelt. Und so lasen in der "Whig Hall" auf dem Campus die deutschen Autoren einander neue Texte vor, jeweils zwanzig Minuten lang. Darauf folgten, wie immer, Akte der spontanen Kritik, die nur dem Text gelten und nie grundsätzlich werden durften.

Für Jörg Magenau werden diese drei Tage zu einem Ereignis, in dem sich die Geschichte der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert erkennen lässt, in Haupt- und Nebenzügen. Die Alten sind noch da, nicht zuletzt in Gestalt von Hans Werner Richter selbst, die Mittleren sind die tragenden Figuren, Günter Grass und Peter Weiss etwa, und die Jungen drängen schon herbei: F. C. Delius oder Peter Handke. Auch was danach kam, bis auf den heutigen Tag, scheint Magenau schon in dieser Tagung enthalten zu sein. Möglich wird ihm diese Verdichtung, weil er seinen Bericht weniger als Geschichtsschreibung denn als literarische Reportage anlegt: als wäre er dabei gewesen, als hätte er alles gesehen und gehört und gelegentlich sogar in die Köpfe der Beteiligten gucken können, vor allem in den Schädel Hans Werner Richters, des Arrangeurs der gesamten Veranstaltung: "Warum, zum Teufel, war eigentlich Eich nicht gekommen?" Wie eine Drohne scheint dieser Reporter seinen Gegenstand zu umfliegen.

In der Vielheit der Blickwinkel, im häufigen Wechsel der Themen wird das Willkürliche und Zufällige der Veranstaltung sichtbar. Auf der einen Seite steht zwar, deutlich erkennbar, ein gewaltiges Verlangen: nach Bedeutung, nach verbindlichen Antworten auf die Frage nach einer gesellschaftlich und historisch gültigen neuen Literatur. Auf der anderen Seite aber sind die Mittel unzureichend und rettungslos an den einzelnen Menschen gebunden, an seine Beschränkung, an seine Zufälligkeit und an Eitelkeit: "Fried fand seine Gedichte gut. Er fand sie sogar sehr gut. Und auch wenn die anderen sie nicht so gut fanden . . . " Die Gruppe 47 erscheint, so erzählt, als ein Projekt zur ästhetischen Emanzipation der Bundesrepublik, von dessen Existenz die daran Beteiligten wenig Ahnung hatten - und das vielleicht erst im Nachhinein, im Erzählen und noch einmal Erzählen, überhaupt Gestalt gewinnt.

Jörg Magenau: Princeton 1966. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 224 Seiten, 19,95 Euro. E-Book: 15,99 Euro. (Foto: N/A)

Entsprechend vermessen, ja erratisch wirken, ebenfalls im Nachhinein, die literarischen und politischen Ansprüche der Beteiligten: "Wir wollen unsere Sympathie für diejenigen zeigen, die für ein anderes Amerika kämpfen", hatte Peter Weiss in einem Interview mit der New York Times erklärt. Er musste dann aber in großer Runde Abbitte leisten für dieses "Wir" und sich auf die eigene Subjektivität zurückziehen, so wie es letztlich alle anderen taten, die Skrupel empfanden, in einem Land zu Gast zu sein, das in Vietnam einen imperialen Krieg führte, oder die sich darauf vorbereiteten, im kommenden Wahlkampf die SPD zu unterstützen, mit Parolen wie "Bildung baut Vorurteile ab und verleiht Urteilskraft". Solche Einfälle wirken, aus fünfzig Jahren Abstand und aus der Perspektive einer ebenso mobilen wie allwissenden Drohne betrachtet, beinahe so schrill und schräg wie Günter Grass' Idee, in Gedichtform von sexuellen Ausschweifungen zu erzählen, bei denen "jede Rechnung unterm Strich / auf minus neunundsechzig zählte" - was die Kritiker in einhellige Begeisterung versetzte.

An Ehrgeiz und Intrigen fehlte es nicht, auch nicht an Selbstbezogenheit

Die Technik der literarischen Reportage, das sorgfältig inszenierte Ineinander von szenischer Beschreibung, Kolportage und Kulturgeschichte, besitzt den Vorteil, dass sich die Ereignisse gegenseitig relativieren und am Ende ein Gruppenbild entsteht, wie es vermutlich realistischer nicht werden kann. Eine Veranstaltung zur Vermarktung der deutschen Literatur sei die späte Gruppe 47 gewesen? Nun, es mag an Ehrgeiz und Intrigen nicht gefehlt haben. Aber Empfindlichkeit und Selbstbezogenheit taugen in der Werbung wenig. Siegfried Unseld habe die Tagung im Übermaß für den Suhrkamp Verlag genutzt, als öffentliches Forum nach außen wie nach innen? Schwer vorstellbar, dass eine so wirre Veranstaltung einen greifbaren strategischen Nutzen hervorbringen konnte. Und wenn auch Peter Handkes am letzten Tag vorgetragener Überdruss an dem falsch verstandenen Realismus, der den größten Teil der vorgelesenen Literatur geprägt hatte, zu einem großen Ausrufezeichen (und zum Beginn eines großen Ruhms) wurde, so lässt Magenaus Beschreibung doch keinen Zweifel daran, dass dieser Auftritt, sollte er überhaupt geplant gewesen sein, eher eine Improvisation mit diffusem Gegenstand und in unklaren Allianzen war - und erst in späteren Erzählungen zu einer Bedeutung fand, die seitdem alle anderen Ereignisse auf dieser Tagung überstrahlt.

Jörg Magenaus imaginäre Reportage ist ein gutes Buch, weil man viel über die Geschichte der jüngeren deutschen Literatur und ihre tragenden Gestalten lernt. Es ist ein kluges Buch, weil es sich nicht zu schade ist, auch ein Traktat über den Klüngel zu sein: über einen kleinen Kreis von vermeintlich Auserwählten, in dem jeder den anderen geringer schätzt als sich selbst, aus dem es aber kein Entrinnen gibt, nicht zuletzt, weil ein jeder von einem brennenden Verlangen nach Geltung getrieben ist, zu dem das Kollektiv einiges beizutragen vermag. Mit diesem Klüngel war es vorbei, als die Gruppe 47 im Jahr später ihren Betrieb einstellte. Andere Klüngel traten an seine Stelle.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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