Literatur:Eigensinn und Sinnlichkeit

Lesezeit: 2 min

Schon jetzt zählt die Protagonistin aus Colm Tóibíns Entwicklungsroman "Nora Webster" zu den großen Frauengestalten der Literatur. Am Freitag stellt der Ire sein Buch in München vor

Von Jennifer Gaschler

Colm Tóibín gilt als eine der wichtigsten Stimmen der irischen Literatur. Die realistischen Geschichten aus der südirischen Kleinstadt Enniscorthy, in der er geboren wurde, bescherten ihm Erfolg in aller Welt. 2015 kam die Verfilmung seines Bestsellers "Brooklyn" in die Kinos. Mit "Nora Webster" erkundet der Romancier nun das Irland der Sechzigerjahre durch die Augen seiner Protagonistin. Der frühe Tod ihres Ehemannes hinterlässt diese orientierungslos, als Mutter von vier Kindern muss sie um den Unterhalt kämpfen. Und während in Derry der Nordirlandkonflikt in Gewalt ausartet und in Dublin die britische Botschaft brennt, löst sich Nora von einem vorhersehbaren Hausfrauenleben.

"Es war eine Befreiung - aber zu einem sehr hohen Preis - sie selbst würde denken, dass der Verlust den Gewinn nicht wert war", sagt Tóibín. Der Entwicklungsroman ist - selbst für ein Werk von Tóibín - besonders realitätsnah, fast fürsorglich und sentimental spricht der Autor über seine Romanfiguren. Das liege an den autobiografischen Parallelen. "Ich bin selbst 1955 geboren, ich habe für dieses Buch deshalb eigentlich kaum recherchiert und konnte fast völlig aus dem Gedächtnis arbeiten." "Es ist zwar keine Autobiografie, weil es ja nicht über mich ist, sondern über Nora, aber das Haus, in dem die fünf leben, ist bis ins kleinste Detail mein Geburtshaus, und auch mein Vater ist gestorben, als ich gerade erst zwölf war." Nora hat zwei Söhne und zwei Töchter, der jüngere Sohn ist dabei fast ein Alter Ego von Tóibín. Er selbst habe gestottert, sagt dieser, und auch er habe nach dem Tod des Vaters ein Ventil finden müssen - was bei ihm die Literatur war, ist bei Donal die Fotografie. Immer weiter zieht er sich zurück, flüchtet sich in die Dunkelkammer, später in ein Internat, das auch der Autor besuchte. "Aber er hat auch eine melancholische, etwas eigenbrötlerische Weltsicht - genau wie ich damals."

Nora wird von Kritikern bereits in einem Atemzug mit Effi Briest, Anna Karenina oder Emma Bovary genannt, als eine der "unsterblichen Frauengestalten der Literatur" bezeichnet. "Noras Geschichte ist zu einem großen Teil die Geschichte meiner Mutter aus der Zeit, in der sie frisch verwitwet war. Auch sie hatte damit zu kämpfen, wieder zurück ins Arbeitsleben zu finden, uns Kinder zu versorgen - eine besondere Frau, obwohl sie eigentlich nichts Großes geleistet hat."

Diese Jahre, die für seine eigene Familie und sein Heimatland so prägend waren, erforscht der Autor im Roman ausführlich und detailverliebt. Zwölf Jahre lang schrieb er an dem fast 400 Seiten starken Werk, haderte mit der literarischen Rahmung, dem Spannungsbogen für das Leben seiner eigenen Mutter: "Ich wollte ein Porträt einer einzelnen Person erschaffen - fast wie ein Rembrandt oder ein Vermeer. Alles andere verankert dieses Porträt nur, die Mondlandung, der wirtschaftliche Aufschwung, der Nordirland-Konflikt - das hat alles einen Einfluss auf Nora, aber sie ist das Zentrum des Romans".

Tóibín erschuf eine störrische, eine eigensinnige Heldin. Sie färbt sich ihre grauen Haare, entdeckt die Leidenschaft zur Musik und kämpft für ihre Kinder. Und doch reagiert sie auch schwach und impulsiv, wirft ihren Beruf bei kleinen Unstimmigkeiten hin. "Aber man muss sich vorstellen: Feminismus - das haben die Frauen aus den Provinzstädten eigentlich nur im Fernsehen verfolgt", sagt der Autor, "die dachten, dass sei so weit von ihnen weg. Aber unterdessen trauten sie sich auch selbst mehr Entscheidungen zu, wurden selbständiger und haben ihre neue Macht manchmal auf skurrile Weise gezeigt. Meine Mutter zum Beispiel weigerte sich, schwarze Witwenkleidung zu tragen, wie das damals ein Jahr lang üblich war - selbst auf der Beerdigung meines Vater trug sie bunt."

Colm Tóibín: Nora Webster , Lesung am Freitag, 16. Sep., 20 Uhr, Literaturhaus

© SZ vom 16.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: