Literatur:Chronist des eigenen Lebens

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Eine Hommage auf den spanischen Schriftsteller Rafael Chirbes, dessen Werk in München gewürdigt wird. Von Georg M. Oswald

Von Georg M. Oswald

Über Schriftsteller, die etwas zu sagen haben, spricht man am besten in Zitaten: "Wir Romanschreiber von heute streunen gleichsam scheu und allein herum, erschnüffeln den verwirrenden Geruch der Zeit, jagen etwas nach, von dem wir nicht einmal wissen, was es sein könnte. Poesie wird nicht verkündet, sie wird versucht [...]. Jeder kaut an seinem eigenen Roman, so wie jeder an seinem eigenen Tod kaut - die Tabletten und das Wasserglas auf dem Nachttisch. Unser Anspruch geht allenfalls so weit, Chronisten unseres eigenen Lebens zu sein, unseren Weg durch die Welt auf dem Block zu notieren, den uns - für eine wahrlich kurze Zeitspanne - der Tod zur Verfügung stellt."

Dieses Zitat von Rafael Chirbes klingt bescheiden und tröstlich, aber auch ungeheuer resignativ. Denn eigentlich ist mit Literatur doch viel mehr gemeint, ist ihr Anspruch ein weit größerer, und gerade Chirbes' Werk ist ein besonders beeindruckendes Beispiel dafür. Wollte er in seinen Büchern nicht der spanischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten? In seinen Romanen von den Wunden sprechen, welche zuerst die Diktatur und später der entfesselte Neoliberalismus geschlagen hatten? Und tat er nicht beides auf beeindruckende Weise?

Als im Jahr 2000 "Der Fall von Madrid" auf Deutsch erschien, wurde Chirbes als Chronist der letzten Tage der Franco-Diktatur gefeiert. Aus den Perspektiven unterschiedlicher Charaktere, die sich mit dem Regime arrangiert oder unter ihm davongekommen waren, erhält der Leser eine Innenansicht vom Spanien der Siebzigerjahre, wie sie nur Romane gewähren können. Bei Chirbes lernt man, wie dieses Land roch und schmeckte, welche Hoffnungen und Ängste seine Bewohner bewegten, welche lebenswichtigen, unausgesprochenen Gesetze neben den geschriebenen galten.

Dieser intime und ehrliche Blick kann nicht jedermann angenehm gewesen sein, und er ist es auch jetzt nicht. Auch Chirbes' Romane "Krematorium" und "Am Ufer" über den Verfall seines Landes unter den Händen losgelassener Immobilienspekulanten bieten weit mehr als eine Vorlage zum Kopfschütteln über die schlimmen Verhältnisse. Sie konstatieren, was in Gesellschaften geschieht, denen der Gemeinsinn abhanden gekommen ist. Doch man würde Chirbes verkennen, sähe man in ihm nur eine Art literarischen Protokollanten der politischen Verhältnisse seines Landes. Er war kein Prediger und keiner, der glaubte, es besser zu wissen. "Romanschriftsteller sind keine Priester, keine Psychoanalytiker und keine Politiker. Wir müssen nicht predigen, heilen oder sanieren. Wir entziffern nur den Geist unserer Zeit. Und mein Roman versucht, dem Leser etwas vor Augen zu führen, was er womöglich nicht wahrhaben will."

In einem gewissen Sinn ist es richtig zu sagen, kein Schriftsteller kann sich aussuchen, worüber er schreibt. Nur für das, was ihn ganz und gar beschäftigt, ihn letztlich ausmacht, wird er eine Sprache finden.

Chirbes als Chronisten und Realisten zu feiern und zu loben ist nicht verkehrt, aber es ist auch nicht die ganze Wahrheit. Er war mit den Verhältnissen in seinem Land und in seiner Stadt Madrid nur deshalb so schicksalhaft verschlungen, weil er sie zu Zeiten ganz weit hinter sich gelassen hatte. Sein erster und sein letzter Roman zeugen davon. In seinem Erstling, dem Roman "Mimoun", findet sich der Satz: "Madrid war ein bedeutungsloser Punkt auf der Karte und mein Buch etwas, das sich in irgendeinem unsichtbaren Winkel dieses Punkts verlor." Obwohl dieser schmale Roman über einen schriftstellernden Lehrer, der nach Marokko geht, eben nach Mimoun, auf den ersten Blick untypisch für Chirbes' Arbeit wirkt, erscheint er mir doch wie ein Schlüssel zu seinem tieferen Verständnis. Natürlich muss für Chirbes nicht ohne weiteres stimmen, was für seinen Ich-Erzähler stimmt. Aber interessant ist es doch, dass er in seinem ersten Roman einen Mann beschreibt, der mit allen Mitteln, beinahe bis zur Selbstaufgabe, versucht, jene Welt, die Chirbes lebenslang so obsessiv beschäftigte, hinter sich zu lassen.

Gerade habe ich angefangen, "Paris-Austerlitz" zu lesen, den letzten, nachgelassenen seiner Romane, der soeben erschienen ist. Er ähnelt seinem Erstling in manchem verblüffend. Hier wie dort geht es um den Wunsch, Künstler zu werden, um sexuelle Ausschweifungen und zu viel Alkohol, um den Ich-Verlust in der Fremde und die Selbstbehauptung im eigenen Werk.

Es gefällt mir, dass Chirbes sein Hauptwerk, die großen, analytischen Gesellschaftsromane, zwischen zwei schmale Ich-Romane gefasst hat, in denen er das eingangs zitierte Credo beschwört: "Poesie wird nicht verkündet, sie wird versucht". Es ist das Credo eines Ungläubigen, der beschlossen hat, sich allein auf seine Sinne zu verlassen und uns in der kraftvollsten Sprache zu erzählen, was er erlebt hat.

Der gebürtige Münchner Georg M. Oswald ist Schriftsteller ("Alles was zählt"), Jurist und Chef des Berlin Verlags. Über seine Beziehung zu Chirbes erzählt er am Mittwoch, 26. Oktober, im Instituto Cervantes. Am Dienstag, 25., spricht Paul Ingendaay im Gasteig/Black Box über Chirbes, und am 27. kommentiert Regisseur Dominik Graf im Cervantes den Film "Crematorio" (jeweils 19 Uhr).

© SZ vom 25.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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