Literatur aus Albanien:Die Verfinsterung der Welt

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Hat seine albanische Heimat der Weltliteratur erschlossen: Ismail Kadare, ein meisterlicher Erzähler, nicht immer frei von Chauvinismus. (Foto: Alberto Morante/dpa)

Ismail Kadare erzählt in "Die Schleierkarawane" vom Widerstand Albaniens gegen religiöse Unterdrückung.

Von Karl-Markus Gauß

Der 1936 im südalbanischen Gjirokastra geborene Ismail Kadare zählt zu den bedeutendsten Erzählern unserer Zeit. In seinem vielbändigen, vielstimmigen Werk hat er eine unbekannte, hinter Grenzen, Vorurteilen und Mythen verborgene Welt erkundet und Albanien der Weltliteratur erschlossen. Seine Romane preisen den Stolz und die Leidensfähigkeit eines kleinen, in seiner Geschichte immer wieder von der Auslöschung bedrohten Volkes, das den Verlockungen der Assimilation an seine wechselnden Unterdrücker widerstand und sich seine sprachliche und kulturelle Identität bewahrte. Als "rebellischste aller Nationen" hat Kadare, der seine Bücher nicht immer frei von chauvinistischem Dünkel zu halten weiß, die Albaner gerühmt, und in seinem historischen Roman "Der Schandkasten", der von einer Revolte gegen die jahrhundertelange Herrschaft der Osmanen handelt, heißt es: "Der Geist der Rebellion war so umfassend und unveränderlich wie das Klima des Landes."

Unverkennbar strebt dieser Autor nicht weniger an, als mit den Mitteln der modernen Literatur einen uralten Auftrag der Epik wieder aufzunehmen: die großen Überlebensfragen des Stammes, der Nation im literarischen Bild zu gestalten und so als Deuter, als Stifter von Identität auf das Kollektiv zurückzuwirken. Etliche seiner Werke beziehen sich dabei auf jene Jahrhunderte, da Albanien unter osmanischer Herrschaft stand und sich viele Fürsten und Bauern wider die Islamisierung, eine ihnen aufgezwungene Kultur und Religion zu behaupten versuchten. Zu diesen Büchern gehören auch drei zwischen 1977 und 1983 verfasste, 1987 auf Deutsch in der DDR erschienene und jetzt von dem bewährten Joachim Röhm neu übersetzte Erzählungen, in denen Kadare mit Sarkasmus und unerbittlicher Logik genau davon erzählt: von der Bedrängnis, in die seine Heimat durch die Osmanen geriet, und von der Auflehnung, die in den Bergdörfern, im unwegsamen Land mit seinen versprengten Städten niemals erlosch.

Die beste Erzählung ist die erste, die dem Sammelband den Titel gibt. "Die Schleierkarawane" erzählt von dem naiven und ungebildeten Karawanenführer Hadschi Milet, der eines Tages vom Sultan den Auftrag erhält, eine halbe Million schwarzer Gesichts- und Körperschleier in die Provinzen zu bringen, die auf dem Balkan liegen und von den aufsässigen Albanern bewohnt werden. Dieser Auftrag steht im Zusammenhang mit dem blutigen Versuch der Osmanen, jene Gebiete, die sie seit der frühen Neuzeit auf dem Balkan und in Mitteleuropa erobert und in relativer Autonomie belassen hatten, nun endlich auch religionspolizeilich unter Kuratel zu stellen.

Hadschi Milet ist dreißig Jahre, verheiratet und hat doch vom Leben und von den Frauen nicht die geringste Ahnung: "Von sich aus wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, dass es unverhüllte Frauen überhaupt geben könnte." Die Stimmung in Stambul ist gespalten. Die einen sind traurig, dass nun auch den "Europäerinnen" droht, was schon die einheimischen Frauen erdulden müssen; die anderen sehen es mit Schadenfreude, dass die eitlen, westlichen Frauen aus der Öffentlichkeit gedrängt und mit dem Schleier "vor sich selbst geschützt werden" sollen. Für Hadschi war es bisher eine hingenommene Realität, dass "die menschliche Rasse aus zwei Teilen bestand: einem verhüllten und einem unverhüllten".

Die Karawane macht sich auf den langen Weg, begleitet von Offizieren, Soldaten, Spitzeln, und eines Tages sieht Hadschi, was er noch nie gesehen hat, Frauen ohne Schleier, die in aller Öffentlichkeit lachen, den Blick nicht senken, sondern ihn, den fremden Mann, selbstbewusst ins Auge fassen, Frauen, die stolz sind auf ihr offen gezeigtes Haar und sich ungezwungen bewegen. Dieses Erlebnis wühlt ihn im Innersten auf, bald wünscht er den zuchtlosen Weibern die Strafe Allahs und seiner irdischen Wächter, bald fühlt er sich von ihnen unwiderstehlich angezogen. Albanien wird so für ihn zum persönlichen und kulturellen Erweckungserlebnis.

Unmissverständlich deutet Kadare den Konflikt als kulturellen Riss, der zwischen Freiheit und Unterdrückung, und das heißt für ihn: zwischen Europa und dem Orient klafft. Ausgerechnet Albanien wird so zum tapferen Vorposten Europas, zum Bollwerk der Aufklärung und Freiheit erklärt, denn was der Sultan in Albanien anstrebt, das will er in allen eroberten Ländern durchsetzen, namentlich in Serbien, Griechenland, Rumänien, Bosnien, Bulgarien, Ungarn: Jede Frau soll dort "genauso den Schleier zu tragen haben wie alle anderen Muselmaninnen". Als die Karawane die letzten Schleier ausgeliefert hat, kommt sie auf dem Rückweg durch eine Welt, die nicht mehr dieselbe ist wie vorher. Hadschi Milet bemerkt, dass überall, wo das Leben noch vor wenigen Wochen und Monaten bunt und fröhlich war, die Dinge farblos, die Menschen freudlos geworden sind. "Es hatte Sonnen- und Mondfinsternisse gegeben, nun stand die dritte große Dunkelheit bevor: die Verfinsterung der Frauen."

Die Verschleierung nimmt den Frauen die Würde und Europa die Demokratie

Kadare weiß packend zu erzählen, mit jedem Kapitel verschärft er den Konflikt, der sich in der persönlichen Erfahrung eines nicht besonders hellen Mannes von vorgestern spiegelt, aber durch die Welt von heute schneidet. Der heikle Stoff, der in den letzten Jahren so viel Verwirrung und Streit hervorgerufen hat, Kadare greift erstaunlich unbefangen nach ihm. Für ihn ist klar, dass die Verschleierung den Frauen die Würde, Europa die Demokratie, der Welt die Schönheit rauben soll. Mit großem literarischen Können bringt Kadare es zuwege, die Dinge nüchtern und realistisch darzustellen und ihnen zugleich parabelhafte Vieldeutigkeit zu verleihen. Es ist eine Welt des omnipräsenten Misstrauens, die er kenntlich macht: Während die Frauen unter den Schleier müssen, weil ihrer Keuschheit und der Selbstbeherrschung der Männer nicht zu trauen ist, werden die Männer mithilfe einer bizarren Bürokratie überwacht und selbst noch im Schlaf ausgekundschaftet, damit die Herrschaft des Sultans, seiner Hofschranzen, seiner Wesire und Religionspolizisten unangefochten bleibe.

Auch die beiden anderen Erzählungen haben ihre Qualitäten, wenngleich die über zwei Jahrhunderte ausgespannte Geschichte "Das Geschlecht der Hankonen im Gang der Zeit" nicht die Brisanz hat wie die dramatisch sich zuspitzende Erzählung von der Verfinsterung der Welt. Im Mittelstück "Der Festausschuss" übt Kadare wiederum unerbittlich Kritik an der osmanischen Despotie, und neuerlich ist es Albanien, das zugleich als Opfer der religiösen Unterdrückung und als Land unbeugsamer Rebellen erscheint. Weil die lokalen Fürsten in der Provinz nach und nach fast unabhängig von der Zentrale geworden sind und ihrem Volk unislamische Freiheiten gewähren, sinnt die Verwaltung in Stambul nach einer Gelegenheit, die albanische Nation auf einen Schlag ihrer Eliten zu berauben. Der Sultan lässt die albanischen Würdenträger zu einem Gastmahl der Versöhnung einladen und sie dort allesamt massakrieren. Kadare nimmt auf ein Ereignis des Jahres 1830 Bezug und nimmt den historischen Fall zum Anlass, über die Macht und ihre Lakaien, die Diktatur und ihre Lobredner zu räsonieren.

Meisterlich erzählt Kadare, mit grimmigem Witz und Sinn für das Surreale der Realität. Seine Geschichten haben einen doppelten Boden, aber er führt sie dennoch zu einer klaren Aussage: Europa muss sich gegen die Gefahr behaupten, seine Freiheit hinter schwarze Schleier zu zwingen. Es wäre aber nicht Kadare, wenn er in dieser so eindringlich geschilderten Not nicht wüsste, von wo die Rettung kommen könnte, aus Albanien natürlich, dem Mutterland der Revolte.

Ismail Kadare: Die Schleierkarawane. Erzählungen. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 208 Seiten, 19,99 Euro.

© SZ vom 29.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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