Literatur:Auf Sehnsuchtsreise im Putin-Land

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Im Alter von einem Jahr kommt Filipp Piatov aus Sankt Petersburg nach Bad Krotzingen. In dem Buch "Russland meschugge" hat er nun seine Suche nach der russischen Seele dokumentiert

Von Eva-Elisabeth Fischer

Die Wände leuchten in Tschitscheringrün, einer undefinierbaren Farbe, wie sie nicht nur mit der Sowjetunion, sondern auch mit der sibirischen Tundra assoziiert wird; die abgetretenen Orientteppiche unter wackeligen Tischchen wurden wohl seit dem Großen Vaterländischen Krieg nicht mehr gesaugt. Passt. Auf der Karte steht Wodka und hinter der Theke ein ordentlich gescheitelter junger Mann mit schwarzbraunen Augen und auffallend zarten Händen. Er liest so hastig aus seinen russischen Reisenotizen, als sei ihm Putins Geheimdienst auf den Fersen. Könnte durchaus sein, denn er steht auf der Liste der "pathologischen Russophoben", in prominenter Nachbarschaft übrigens mit Barack Obama.

Ort des Geschehens: der Salon Irkutsk an der Isabellastraße. Anlass: Der Publizist Filipp Piatov liest aus seinem Bucherstling "Russland meschugge - Putin, meine Familie und andere Außenseiter", just erschienen bei dtv Premium. Christine Hamel vom BR befragt ihn, und der mitteilungsfreudige Kneipier gibt ungebremst seinen Senf dazu. Außerdem fehlt der obligatorische Bücherstapel zum Signieren. Schade, der Laden brummt, Junge und Alte löffeln Borschtsch, russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge wie Piatov selbst einer ist und nicht-jüdische Deutsche. Das Buch ist definitiv sehr viel besser als sein München-Start.

In der dritten Klasse der Transsibirischen Eisenbahn machen erst Wassergläser voll selbstgebranntem Wodka mürrische Menschen munter. (Foto: Alamy)

Den größten Widerspruch gegen sein Russlandbild erntet Piatov an diesem Abend von seinesgleichen. Macht nichts. "Russland meschugge" ist subjektiv, ganz klar, auch wenn der Autor den distanzierten Blick des Journalisten für sich in Anspruch nimmt. Der nun wiederum hat sich notgedrungen schon an schwerere Geschütze gewöhnt. Didi Hallervorden hatte wohl noch reichlich Honig im Kopf, als er öffentlich gegen Piatov zu Felde zog, weil es ihm missfiel, dass dieser in einem Artikel Partei ergriffen hatte für die israelischen Opfer palästinensischer Messerattacken. Das Interessante an Filipp Piatov aber ist, dass er, anders als sein Mentor Henry M. Broder, gar nicht provoziert, sondern dass etliche seiner Leser schon allein seinen von der Norm abweichenden Standpunkt bei sensiblen Sachverhalten provokant finden. Zum Beispiel, dass er die oft Israel-feindliche Berichterstattung in deutschen Medien kritisiert. Er schreibt für Springers Welt und ist auch auf Broders Blog "Achse des Guten" präsent. Pfui, pfui. Da könnte man sich's einfach machen, Stempel drauf und weg!

Jetzt hat der knapp 25-Jährige auch noch dieses Buch geschrieben mit irritierendem rotgestromten Cover, eine Faust in der Mitte, die statt Hammer und Sichel eine Gabel samt aufgespießter Wurst umschließt. Beides - der Titel wie die Illustration - lässt jene geistesschlichten, selbstironisch gemeinten Sottisen vermuten, die sich hierzulande seit jeher bestens als jüdischer Humor verkaufen.

Diese Erwartungshaltung allerdings erfüllt Piatov ebenso wenig wie die des Provokateurs aus Daffke. Es gibt sie, die lustigen Stellen, in der liebevollen Schilderung von Mutters beschränkten Kochkünsten zum Beispiel, oder, von leisem Ekel begleitet, die Geschichte von Vaters traumatischem Besuch in einer sowjetischen Wurstfabrik. Deshalb liest sich "Russland meschugge" in seiner gelungenen Verschränkung individueller Familiengeschichte wie auch der russischen Sozialisation des Autors im badischen Bad Krotzingen mit den Reiseeindrücken durch die GUS-Staaten so leicht. Piatov aber hat einen sehr eigenen Kopf und versteht es, seine Gedanken treffsicher und dabei elegant zu formulieren, bleibt nicht beim Erlebnisbericht stecken, sondern liefert die pointierte politische Einordnung mit. Er schildert das Erlebte in analytischer Draufsicht, wobei das Emotionale keineswegs zu kurz kommt.

Filipp Piatov, 1991 in Russland geboren, wuchs im Badischen auf. (Foto: Sarah Klatt)

Die aufgespießte Wurst auf dem Cover, das erschließt sich bei der Lektüre, ist Symbol für alles, was zwischen Kaliningrad, Sankt Petersburg und dem Baikalsee an real exerzierter Menschenverachtung zum Kotzen ist. Und das fängt an bei den Lebensmitteln als mutwilliger Körperverletzung, bleibt aber längst nicht dabei stehen. In der Holzklasse der Transsib wie auch in den Städten und in den Unterkünften, die Piatov und seine Begleiterin über Couchsurfing aussuchen, lernen sie alle möglichen Leute kennen, vom Schläger bis zum Nerd, vom Säufer bis zum Abstinenzler, vom Hungerleider bis zum Neureichen. Der ukrainische Cousin sagt, was im Land offenbar nicht wenige in Putin-Land verinnerlicht haben: "Weißt du, ich würde die Schwuchteln alle erschießen wie die Bären." Er ist Boxer und einer jener Lederjackenträger, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte und von denen es auf dieser Reise so viele gibt. Sara, seine damalige Freundin und Begleiterin, ist da ganz und gar auf Piatovs Ritterlichkeit angewiesen. Denn sie ist jung, kann kein Russisch.

"Immer ist mir bewusst, wie gigantisch dieses Land ist. Aber erst nach fünf Städten, viereinhalb Tagen in der Transsibirischen Eisenbahn und fast sechstausend Kilometern fühle ich es auch", schreibt Piatov. Am Ende steht die Erkenntnis eines Landes unbegrenzter Möglichkeiten, in dem stets alles (mutwillig) vermasselt wird. Er sieht sich dem Dilemma seiner Hassliebe zu Russland ausgesetzt, dem Land, dem er sich nahe fühlt, obgleich er es bereits als Einjähriger verließ: "Die Lethargie, die Melancholie und Apathie - ich könnte das gleichgültig als russische Eigenschaften bezeichnen und mich damit abfinden. Aber dieses Land hat zu viel Großes, als dass es mich kaltlassen könnte."

In "Russland meschugge" beschreibt Filipp Piatov also seine Sehnsuchtsreise. 2013 tritt er sie an auf der Suche nach der russischen Seele als Spiegel seiner eigenen. Er macht sich auf den Spuren seiner Eltern und Großeltern in zwölf Etappen auf den Weg und kommt nicht wirklich ans Ziel. Im Gepäck hat er die Geschichten seiner Vorfahren von der Hungerblockade Sankt Petersburgs und der Vernichtung des Schtetls. Die heiß geliebte Großmutter hatte als Kind im Wald unter Partisanen überlebt und entging so dem grausamen Tod, lebendig begraben zu werden von den Nazis. Den großen Sieg feiert man in Russland auch heute noch. "Weil sie seitdem nichts mehr geschafft haben", sagt Piatov. Das will nicht jeder hören.

© SZ vom 27.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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