Literatur:Als Gott sich mit Skizzen befasste

Lesezeit: 3 min

Giorgio Agamben bringt in "Die Erzählung und das Feuer" Pathos in kleinste Sachverhalte und bereitet seinem Leser das Gefühl eines lustvollen intellektuellen Taumels.

Von Hannelore Schlaffer

Der Ehrgeiz eines Kulturphilosophen muss es sein, die Dinge tiefer und weiter zu denken, als dies je gelang. Dieser Anforderung gehorcht Giorgio Agamben stets und auch in den nun veröffentlichten Aufsätzen und Diskussionsbeiträgen, gelegentlichen Äußerungen also eines viel gefragten Kulturphilosophen. Agamben wagt auch diesmal überspitzte Schlussfolgerungen und bereitet seinem Leser durch tollkühne Assoziationen das Gefühl eines lustvollen intellektuellen Taumels.

In den fünf Seiten etwa über "Die Schwierigkeiten des Lesens", einem Beitrag zu einer Podiumsdiskussion, fragt er sich, ob Dichtung "in Wahrheit nicht etwas ist, das die geschriebene Sprache unablässig bewohnt, bearbeitet und überdehnt, um sie jenem Unlesbaren zurückzuerstatten, aus dem sie hervorgegangen ist und in das sie zurückzukehren trachtet".

Wer diese fünf Seiten studiert hat, versteht, was Agamben meint, und erkennt, dass auch seine Philosophie nichts anderes ist als "Dichtung", die die Sprache "überdehnt", um das "Unlesbare", das in ihr verborgen liegt, der Realität "zurückzuerstatten".

In der Art, wie Agamben geistige Zusammenhänge zu entdecken sucht, erweist er sich als Schüler Warburgs und Benjamins, so etwa in dem Aufsatz mit dem modischen Titel "Vom Buch zum Schirm. Das Vor und das Nach des Buches". Beim Lesen, so die These, sei die Bedeutung des Nicht-Lesen-Könnens zu bedenken; der Bildschirm des Computers wiederum vereine den historischen Gegensatz der Buchseite, das heißt jener "pagina" des Codex, mit dem abrollenden Bild, das der Thora-Rolle des jüdischen "volumens" ähnle.

Über die Deutungsanstrengungen der hermeneutisch-historisch kontrollierten Geisteswissenschaften gelangt Agamben durch geistreiche Anleihen hinaus, die er bei vormodernen Auslegungsverfahren macht, bei der christlich-jüdischen Theologie vor allem oder bei der Alchimie. Er gestattet sich, was der zünftige Gelehrte sich verbietet. Durch dies Verfahren erscheint die Welt geheimnisvoller und abgründiger, poetischer eben, als sie es ist.

Bei Dichtern mag Agamben denn auch manche seiner mystischen Paradoxien vorgebildet finden. So darf man annehmen, dass er Thomas Bernhards "Der Untergeher", eine Interpretation von Glenn Goulds Klavierspiel, kennt, wenn er in dem Aufsatz "Was ist der Schöpfungsakt?" diesen Virtuosen als Beispiel heranzieht, um Genie und Begabung zu unterscheiden.

Die Differenz bestätige sich darin, dass die Begabung, die "Potenz zu spielen", begleitet sei von der Freiheit, nicht spielen zu müssen, die nur das Genie für sich in Anspruch nehme: "Anders als das Geübtsein, das sich von seiner Potenz, nicht zu spielen, abwendet und sie leugnet, und die Begabung, die nur spielen kann, bewahrt und gebraucht Meisterschaft im Akt nicht ihre Potenz zu spielen, sondern die nicht zu spielen." Aber selbst diese Differenz lasse Glenn Gould - für Bernhard wie für Agamben die Ausnahme der Ausnahmen - hinter sich.

Sind dies originelle Erkenntnisse oder nur hübsche Assoziationen? Geistreich sind die Essays immer

Durch die schwindelerregende Ausdeutung eines kulturhistorischen Wissens gewinnt Agamben ein für interessante Einfälle dankbares Publikum, das es nicht unternimmt, des Autors intellektuelle Fantasien durch Methoden der Wissenschaft zu überprüfen. Ob die schöne Folge von nie gehörten Vermutungen originelle Erkenntnisse sind oder nur hübsche Assoziationen oder gar unhaltbare Spekulationen - das mag der Leser je nach Neigung und Kenntnis im Einzelfall entscheiden.

Agamben wechselt im Handumdrehen vom Kleinsten zum Größten, etwa von der Frage, welche Vorarbeit ein Schriftsteller zu seinem Buch leiste, zu der, was denn Gott vor seiner Schöpfung gemacht habe (und es verlockt, sich einen mit Skizzen und Plänen befassten Gott vorzustellen, der sich seine künftige Welt ausdenkt). Durch solche Poesien bringt Agamben das höchste Pathos in kleinste Sachverhalte - nicht anders, als es eben Dichtung, Kabbala und christliche Allegorese seit je gemacht haben.

Man wird nicht zögern, Agambens Denk- und Schreibweise geistreich zu nennen. Darin liegt Lob und Tadel zugleich: Lob, weil er kühne Ideen verfolgt, die noch niemand zu denken gewagt hat, Tadel, weil er nicht dafür bürgen kann, dass sie zutreffen. "Geistreich" zu sein, das ist der Charakterzug aller Kulturphilosophie: Geistreich im guten Sinne war Georg Simmel, geistreich im schlechten Hermann Graf Keyserling. Ob Agamben, der sich gerne auf deutsche Gewährsleute beruft, zu den Nachfolgern des einen oder des andern zu zählen ist, bleibt bislang unentschieden.

Oft verwendet Agamben das Wort "Mysterium" - eine Anleihe wiederum bei Kult und Religion. In einer Zeit, da Religion nicht mehr verbindlich ist und Kulte komisch oder folkloristisch wirken, bewahrt das "Mysterium", so tiefsinnig man es auch deuten mag, eine Undeutbarkeit, die der Leser bei der Agamben-Lektüre selbst zu erfahren vermeint und genießt.

Giorgio Agamben: Die Erzählung und das Feuer. Aus dem Italienischen übersetzt von Andreas Hiepko. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 137 Seiten, 20 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 22.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: