Literarisches Leben:Ortskunde

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Seitdem die Ungarin Zsuzsanna Gahse ihr Debüt mit dem Satz eröffnete: "Es ist schön, das Schreiben", ist sie eine deutschsprachige Schriftstellerin. Jetzt feiert die Meisterin der kleinen Prosa ihren 70. Geburtstag.

Von Lothar Müller

Wer sich ein X für ein U vormachen will, der hat sich die Buchstaben nicht genau genug angeschaut. Schriftsteller sind Leute, die sich Buchstaben sehr genau anschauen. Und der gesprochenen Sprache sehr genau zuhören. "Das ä losgelöst vom Satz flog dahin wie ein Ball auf der Wiese", notierte Franz Kafka im Tagebuch.

Zsuzsanna Gahse, 1946 in Budapest geboren, floh 1956, als in Ungarn die Revolution scheiterte, mit ihrer Familie nach Wien, kam von dort in die Bundesrepublik und lebt inzwischen in Müllheim im Thurgau in der Schweiz. Seit 1983, als sie ihr Debüt "Zero" mit dem Satz eröffnete: "Es ist schön, das Schreiben", ist sie eine deutschsprachige Schriftstellerin. Aber sie hat das Ungarische nie verlassen, hat Bücher von Péter Esterházy, Péter Nádas und manchen anderen übersetzt. Sie macht sich einen Spaß daraus, eine ihrer Figuren daran scheitern zu lassen, einen ungarischen Witz auf Deutsch zu erzählen, die Sprache, die sie sprechen, in die Gesichter ihrer Figuren einzuzeichnen, oder akustische Physiognomik zu betreiben: "Griechisch klingt ähnlich wie Spanisch, nur etwas zahnloser."

Dass Zsuzsanna Gahse leicht aufs Spanische kommt, hat mit ihrer großen Vorliebe für Cervantes und den "Don Quijote" zu tun, in dem die Figuren des ersten Bandes im zweiten Band auf ihre Leser treffen. Und wenn sie ein Buch "Südsudelbuch" (2012) nennt, weiß sie, dass der Titel manche Leser an die Sudelbücher erinnert, in denen der Aufklärer Georg Christoph seine Gedankenexperimente und Beobachtungen notierte. Die Kollegen, etwa E. T. A. Hoffmann, sind aber sehr unaufdringlich anwesend. Ihre Texte spinnen sich nicht in andere Texte ein, sie sind Echoräume, in die alles zugleich eingeht: das Geräusch ringsum, die Landschaft, die Lektüre. In ihrem Band "Instabile Texte" (2005) gab es eine "Kleine instabile Ortskunde", und das ist vielleicht eine der besten Formeln, die sich für das Schreiben von Zsuzsanna Gahse finden lässt.

Wenn in einem ihrer Bücher der Vokal "a" die heimliche Hauptfigur ist wie in "Jan, Janka, Sara und ich" (2015), dann könnte es so scheinen, als habe sich hier das Sprachspiel selbständig gemacht. Das Schöne an den Büchern von Zsuzsanna Gahse ist aber, dass darin die Spracherkundung immer zugleich Welterkundung ist. Die Großform des Romans benötigt sie dafür nicht. Sie ist als Meisterin der kleinen Prosa zu einer europäischen Autorin geworden. Zum "Ich", das hat sie kürzlich bei ihrer Poetikdozentur in München bekräftigt, hat sie ein skeptisches Verhältnis. Ungreifbar wird sie dadurch nicht. In ihrem Buch "durch und durch. Müllheim/Thur in drei Kapiteln" (2004) ist es nicht weit vom Thurtal zur Donau, beim Blick auf die Durchgangsstraße werden Erinnerungen an die Panzer im Budapest der Kindheit wach, und die Ortskunde im Nahbereich weitet sich zum Ost-West-Kaleidoskop. An diesem Montag feiert Zsuzsanna Gahse ihren siebzigsten Geburtstag.

© SZ vom 27.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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