Leben im Kriegsgebiet:Horror heute

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Die Ausgangssperre und das Futter der Hühner: Im Osten des Landes werden Menschen ohne Strom und Wasser in ihren Häusern gefangen gehalten oder vertrieben, Zivilisten getötet und Leichen geschändet.

Von Nurcan Baysal

Hediye stieß einen Schrei aus. Es war sehr dunkel. 'Hediye', rief ich. Mit meinen Händen tastete ich nach ihr. In ihrem Hals steckte eine Kugel. Eine halbe Stunde lang atmete sie durch den Hals, sie knurrte. Ich wählte dutzendfach den Notruf. Sie kamen nicht. Natürlich bin ich ausgerastet. Meine Kinder verstanden nicht, was passiert. Bis zum Morgengrauen lag Hediye so da."

Diese Worte stammen von Mahmut Şen. Kurz zuvor hatte die Regierung im Ort Cizre eine Ausgangssperre verhängt. Mahmuts Frau Hediye, Mutter von drei Kindern, verlor dann als erste Bewohnerin ihr Leben. Nach Hediye wurden Hunderte weitere Zivilpersonen getötet.

In den kurdischen Gebieten der Türkei fing die Ausgangssperre im August 2015 an. Anfangs waren es drei bis vier Tage, später wurden die Sperren zur Routine, in manchen Orten dauerten sie monatelang. Ein Beispiel: In meiner Heimat, Suriçi in Diyarbakır, ist sie seit 191 Tagen in Kraft.

Diese Sperren beinhalten viel mehr, als dass man einfach nur das Haus nicht verlassen kann. Sie sind eine Art Blockade. Wo die Ausgangssperre gilt, gibt es keinen Strom mehr. In vielen Gegenden werden Wasserspeicher zerstört. Das Ziel ist es also, den Menschen den Zugang zum Wasser zu nehmen. Nicht überall, aber in Gegenden wie Yüksekova, Nusaybin und ähnlichen Landkreisen wurde auch die Telekommunikation gekappt.

Da man wochenlang in einem Haus eingesperrt ist, fehlen nicht nur Strom und Wasser, gleichzeitig beginnen auch Nahrungsprobleme. Die Frauen in Nusaybin gaben ihren Kindern während einer Sperre vor vier Monaten trockene Brotreste zu essen. Das Brot war für die Hühner gedacht.

Dazu kommen dann noch die Bombardements. Während man also im Haus sitzt, ohne Strom, ohne Wasser und hungrig, lebt man mit der Angst, dass jederzeit eine Bombe auf das Haus fallen kann. Da die Gefahr groß ist, dass auf einen geschossen wird, kann man nicht zu nah ans Fenster und nicht auf den Balkon. Man muss sich in den dunkelsten Ecken des Hauses verstecken. Sonderkommandos töteten viele Menschen mit Bomben, Panzerhaubitzen und Gewehrkugeln. Nach einem Bericht der türkischen Stiftung für Menschenrechte starben während der Ausgangssperren 200 Menschen in ihren Häusern.

Die Mörder stellen die malträtierten Körper ihrer Opfer nackt im Internet zur Schau

In den Gegenden der Sperre sind die Schulen geschlossen, die Lehrer wurden in den Westen geschickt, die Kranken und Verwundeten konnten nicht in Krankenhäuser, ihnen wurde nicht einmal eine Ambulanz geschickt. Das Recht, wieder gesund zu werden, das Recht auf Bildung blieb monatelang unberücksichtigt. Der Kampf gegen die Kurden, der nun seit 2015 geführt wird, unterscheidet sich deutlich von dem Krieg in den Neunzigerjahren.

Diese neue Ära des Krieges zeichnet sich durch äußerste Grausamkeit aus - die von den Sicherheitskräften auch noch in sozialen Netzwerken geteilt wird. Die nackten Körper getöteter Frauen, die zur PKK gehörten, wurden zur Schau gestellt. Getötete Anhänger der PKK wurden über die Straßen geschleift und die Videos in Umlauf gebracht. Die Körper wurden malträtiert, zerfetzt, von Tieren angefressen - auch das wurde gefilmt und gezeigt. Es wurden keine Prozesse eröffnet gegen die Menschen, die solche Bilder veröffentlichen. Staatsbeamte betonten zwar, es handle sich um Einzelfälle, aber es ging kontinuierlich weiter. In dieser Phase blieben die Körper von getöteten kurdischen Jugendlichen manchmal monatelang einfach liegen. Das Grundrecht auf ein Begräbnis - es wurde ignoriert.

Die Leiche eines in Diyarbakır-Suriçi getöteten 16-Jährigen wurde seiner Familie am 6. Juni übergeben. Er war am 8. Januar gestorben.

In den Neunzigerjahren wurden Dörfer der Kurden zwangsevakuiert. In dieser neuen Phase hingegen werden die Kurden aus ganzen Städten vertrieben. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums vom Februar wurden 355 000 Menschen während der Zeit der Sperre dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Zivile Gruppen sprechen von mehr als 500 000 Vertriebenen.

Diese Menschen sind in die umliegenden Landkreise übergesiedelt, manche sind auch zurück in ihre Dörfer gegangen. In den kurdischen Gebieten kämpfen gerade Hunderttausende Menschen in Zelten um ihr Überleben. Während der Staat diese Städte leert, weist er den Menschen keinen anderen Ort zu, an dem sie leben könnten.

Schaut man sich die Sprüche an, die die Sondereinsatzkommandos an die Wände schrieben, bekommt man eine erste Idee vom Ausmaß dieses Krieges: "Ihr werdet die Macht der Türken schon noch sehen." - "Mädels, wir waren da, ihr aber nicht." - "Bist du ein Türke, sei stolz drauf. Bist du keiner, gehorche." - "Die türkische Republik ist hier, wo sind die Bastarde?"

Schon in den Neunzigern gab es hier einen Krieg - verglichen mit den neuen Gräueln ein Traum

Die Neunzigerjahre wirken wie ein Traum, wenn wir es mit dem vergleichen, was zur Zeit passiert. Früher wurden die Körper der Getöteten einfach irgendwohin geschmissen, ganz im Geheimen. Das, was sie jetzt anstellen, passiert vor den Augen der gesamten Welt. Damals haben sie unsere Mütter und Geschwister nicht gezwungen, sich splitternackt auszuziehen, haben nicht vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Köpfe unserer Leute abgeschnitten, sie mit Benzin oder Säure überschüttet und verbrannt. Wirklich, die Neunzigerjahre wirken wie ein Traum, verglichen mit dem Horror von heute.

Und Europa? Europa schweigt. Jene Menschenrechte, auf die man so stolz ist, werden gleich nebenan von einem EU-Kandidaten mit Füßen getreten. Dabei wurden diese Prinzipien für tiefdunkle Zeiten wie diese erdacht. Damit Europa und die Welt das nicht noch einmal erleben müssen, damit die Würde des Menschen nicht zerquetscht wird. Die EU und die Staaten Europas werden die Scham, die ihnen zufällt, für immer mit sich tragen.

Nurcan Baysal , Jahrgang 1975, stammt aus Diyarbakır . Dort gründete sie nach einem Politologie-Studium in Ankara ein Institut für politisch-soziale Studien und forscht über die sozioökonomische Dimension des Kurdenproblems.

Deutsch von Hakan Tanriverdi.

© SZ vom 21.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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