Kurzkritik:Schwärmerei mit Köpfchen

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Die Gruppentanz-Studie "Boids" im Schwere Reiter

Von Rita Argauer, München

In Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." gibt es eine Passage, da beschreibt der Protagonist den Moment, in dem er den tödlichen Stromschlag bekommt. Er sei nicht mehr losgekommen von dem Schalter, den er hatte umlegen wollen und dessen Stromkreislauf in diesem Moment auf seinen Körper umlegt wurde. In Moritz Ostruschnjaks neuem Stück "Boids" gibt es eine ähnliche Szene: Die fünf Tänzer erzittern gemeinsam wie unter Strom. Es wirkt, als würden sie von einer fremden Macht durchfahren, von der sie sich eigenmächtig nicht mehr befreien können. Das ist auf eine Art pathetisch, wie das Horrorfilme mit Teufelsbesessenheit sind. Ähnlich auch, wenn die Tänzer gen Bühnenrampe schreiten, wie eine Gruppe Zombies mit verdrehten, schielenden Augen und so, als würden sie gezogen und bewegten sich nicht freiwillig.

Der Münchner Choreograf macht Schwarmintelligenz zu seinem Thema. Dafür wählt er jedoch nicht symmetrische Wasserballett-Formen, sondern entwickelt mit seinen Tänzern gemeinsame Bewegungsidiome, synchronisiert diese aber nicht. Vielmehr stecken sich die Tänzer gegenseitig mit verschiedenen Bewegungen an, die allesamt Fremdbestimmtheit suggerieren, auch weil deren Impulse selten vom Kopf ausgehen, sondern ihren Anfangspunkt im Bein, im Bauch oder anderswo im Körper haben. Marionettenhaft wirkt das, jedoch nie puppig.

Ostruschnjak erschafft im bühnenbildlosen, famos ausgeleuchteten Schwere Reiter eine kühle Gruppenstudie. Die oszilliert zwischen dem Tanzverhalten in Technoclubs und dem ekelhaften Pathos, den gleichgeschaltet agierende Gruppen haben. Schließlich wird die elektronisch pumpende Musik von einem barocken Klavierstück abgelöst. Entsprechend individualisieren sich die Tänzer. Und in plötzlicher Romantik lässt Ostruschnjak am Ende den einzelnen Kopf über dumpfes Schwarmverhalten entscheiden.

© SZ vom 02.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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