Kurzkritik:Meister der Sheng

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Das Orchester Jakobsplatz musiziert Chinesisches

Von Klaus Kalchschmid, München

Shanghai war als Freihafen, für den man weder Pass noch Visum benötigte, letzte Zuflucht für 20 000 Juden, unter denen sich ein reges musikalisches Leben entwickelte. Daniel Grossmann präsentierte mit seinem Orchester Jakobsplatz in der Reithalle ein beziehungsreiches Programm. Darin kontrastierte er die zwölftönige Vertonung der 82. Koran-Sure durch Wolfgang Fraenkel für Alt, Streichorchester und Kesselpauken, im Jahr 1936 in Shanghai entstanden, mit dem Abschied aus Gustav Mahlers "Lied von der Erde" - gesungen in rekonstruiertem Chinesisch.

Dazwischen präsentierte er zwei ganz unterschiedliche Werke des 1976 geborenen chinesischen Komponisten Huang Ruo, der heute in New York lebt: "The Color Yellow" für Sheng - das ist die berühmte, 4000 Jahre alte chinesische Mundorgel - und Kammerorchester sowie das als Reaktion auf den Tod der Großmutter entstandene Klagelied "Leaving Sao" für Chinese Folk Voice und Kammerorchester mit dem Komponisten selbst als Falsettisten. Am aufregendsten war die erste Hälfte des Konzerts, bei dem auch auf Videowänden Zeitzeugenberichte eingespielt wurden. Denn sowohl Fraenkels spannende musikalische Epiphanie des Jüngsten Tags mit der großartigen Altistin Qiu Lin Zhang, die in diesem Jahr als Erda im "Ring" am Nationaltheater zu erleben war, wie auch Ruos enorm farben- und kontrastreiches Stück wirken sicher noch lange nach.

Ob im ausgeprägten, manchmal frechen Dialog der Sheng mit den Bläsern des kleinen Orchesters, als Kadenz des Solo-Instruments mit Schlagzeug, im Dialog nur mit dem Klavier; ob extrem rhythmisch pointiert oder in einem wilden Finale: Wu Wei erwies sich einmal mehr als Meister dieses alten Instruments, der in allen Stilen zu Hause ist, wie vor allem seine fetzige, hochvirtuose Jazz-Zugabe bewies. Auch das Orchester Jakobsplatz spielte hier besonders aufgekratzt, lebendig und farbig.

© SZ vom 25.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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