Kurzkritik:Kühle Elegien

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"The Tiger Lillies" in der Münchner Freiheizhalle

Von Michael Zirnstein, München

Was muss einem widerfahren, dass man als Tod geschminkt über das Siechen der schäbigen Leute singt? Es gab da Vermutungen, bei Martin Jacques rühre dies daher, dass er über einem Bordell in Soho - damals ein Londoner Rotlichtviertel und nicht voller Hipster-Cafés - aufwuchs. Allerdings verneinte er stets, der Name seines Trios The Tiger Lillies spiele auf eine berüchtigte Hure aus Soho an, die im Raubtierfummel Freier fing und von einem ermordet wurde, den sie beklaut hatte. Erstmals bekennt sich der Sänger nun zu der Prostituierten. In "Cold Night in Soho" betrauert er sie; im gleichnamigen 40. Album und auf der Tour dazu lässt Jacques in seine eigene Mördergrube blicken.

Auf der schmucklosen Bühne der Freiheizhalle sieht man ihn im Finsbury Park, wie er als Herumtreiber Harmonika spielt und bettelt, eine Nackttänzerin macht ihn an, sie meine es ernst, neben einer Pisse-pfütze gibt er ihr einen Abschiedskuss. Dass jetzt hier aber keine Elends-Romantik aufkommt! Kurz denkt man bei "Just another Day", wenn der Schnee stöbert, an "In The Ghetto", aber Elvis' Jammer-Hit ist eine Schmonzette gegen diese kühle Elegie. Wenn das Eis einer Obdachlosen in die Venen kriecht, hat das mehr vom Andersen-Märchen "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern", das die Cabaret-Punks in ihrer bisher beklemmendsten Show 2006 auf Tollwood entzauberten. Nun gibt es kein Puppenspiel ("Punch & Judy"), keine Zwerge ("Freak Show"), nur den Tod. Mit jedem Lied, wenn Adrian Stouts Säge singt oder Jacques im Falsett ins Fleisch sägt, wenn Jonas Golland am Schlagzeug die letzten Sekunden herunterticken lässt, wird es schlimmer. Die Salvation Army - eine Unheilsarmee; Gott hat am siebten Tag einer geisterhaften Genesis ("The First Day") die Menschlein eh verlassen; wenn der Trauermarsch im Tempo anzieht, tut er's schroff, ohne die Trauernden in die Freude zu entlassen; der Mensch - ein Sack Knochen; das Mittel, die nutzlosen Tage durchzustehen: "Let's Drink." Hier hat der Spaß ein Ende: "This is, where the Party ends."

Weil es fahrlässig wäre, das Publikum so hoffnungslos nach Hause zu schicken, macht Martin Jacques am Ende wieder Spaß. Beim Wunschkonzert-Teil spielen die Tiger Lillies auf Zuruf ihre Hits vom Brandstifter und den letzten 25 Minuten eines Todeskandidaten. Gegen den rigoros rauen Rest ein Vergnügen, für das man sich fast schämt.

© SZ vom 12.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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